Joe Meyser - aus die große plauderei, roman, early years, 98-2005

aus die große plauderei, roman, early years, 98-2005

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Die Kiefer der Hinterwäldler wühlten in der weichen Pampe gigantischer Truthahn-Sandwiches. Knilche raunten selbstvergessen: Mit der riesigen Porno-Brille und dem John Malkovich-Haarkranz rund um seinen blanken Schädel sähe er aus, wie der unter dem Mikroskop vergrößerte Kopf einer Fliege. 

Bitteschön. Die Leute lästerten gern. Sollten sie. Er war auch nicht ohne. Vor zirka 20 Jahren, sagen wir mal, in Miami – was weiß denn ich – jedenfalls irgendwo am Meer, am besten in Florida …, wäre sein Style schon ziemlich cool rübergekommen. Natürlich wäre es für ihn auch damals eine leichte Übung gewesen, gehörig aus der Zeit zu fallen. Dann wäre er in der Mitte der Sechziger Jahre aufgeschlagen und wenn Sie mich fragen, hätte er noch weit besser ausgesehen. Aber welcher Mann konnte sich schon die Zeiten aussuchen, in denen er zu leben hatte? 

Seit er denken konnte hockte er in einem Kokon, der ihn voll und ganz umschloss und so gut wie nichts durchließ. Als wär das Ding innen mit Watte ausgeschlagen oder so. Ihm war das nur Recht. Er hatte keinerlei Angebote abgegeben – umgekehrt waren keine reingekommen, die ihn hätten raus ins Leben locken können. Also saß er seine Zeit ab. Äußerlich verharrte er in einer Art Lähmung, innerlich erträumte er sich seine eigene Vita – bestehend aus spektakulärer Vergangenheit und verwegener Gegenwart. Mit der Zeit begann er die Ausgeburten seiner Phantasie mehr und mehr als real zu empfinden. Eine feine Sache – nur so konnte er diesen Quatsch sich selbst und allen anderen als die reine Wahrheit verkaufen, ohne ständig rot anzulaufen.

Die Jahre flossen dahin, zäh wie Fenchelsirup. Er wurde krank, wieder gesund – irgendwann erkrankte er selbst für seine Verhältnisse schwer. Eine Reihe endloser Tage, durchgeschwitzte Laken und der Geruch von gebohnerten Linoleumböden auf der Inneren, Station 3. Er entwickelte eine seltsame Zuneigung zu Krankenstationen – als würde jemand einem Bilder vom letzen Zuhause auf Erden zeigen – denn irgendwann würde es genau dort zu Ende gehen, mit nichts als Fleece-Bademantel, Waschlappen und Zahnbürste.

Doch diesmal war es noch nicht soweit gewesen. Er kam frei – tatsächlich fühlte man sich nach längeren Krankenhausaufenthalten wie aus dem Knast entlassen – und konnte tun, wonach ihm seit Opas Tod der Sinn stand: Tagträumen, durch die Straßen laufen und so oft es sich ergab, unglücklich verliebt sein. Ständig erklangen neue Riffs im Kopf – er hatte sich einen E-Bass gekauft und war sich sicher, er könne es selbst hinbekommen, das Instrument zu beherrschen. Die Melodiebögen schwerer, dunkler Akkorde fischte er aus der Iris all jener Frauen, welche es vorzogen, ihn geradezu militant zu ignorieren. Den Rhythmus spendierte das Stampfen seiner Boots auf dem Asphalt. 

Seine Songs gerieten immer nur so lange gut, wie es seinem Herzen dreckig ging. In der Dresdner Neustadt lungerte er an Straßenecken herum und wartete auf das Wunder. Wunder hatte es durchaus gegeben. Aber sie waren woanders niedergegangen. Das hatte sogar in der Zeitung gestanden. Wie immer natürlich erst hinterher. 

Als er eines Tages einen Typen auf der Bühne sah, der mit dem Rücken zum Publikum stand, für das er spielte, entschied er sich zu bleiben und nicht – wie sonst unter Menschen – so schnell wie möglich zurück in die Dunkelheit seiner Nachtstraßen zu entfliehen. 

Zur Erklärung: Zur damaligen Zeit gingen die Leute noch raus, trafen einander, oder trafen niemanden an, weswegen sie auf dem Weg zurück nach Hause dann plötzlich jemandem ganz anderen begegneten.

Hey, Kerstin! Wollmer Würzfleisch essen gehen?

Hast du’n Rad ab, du Vogel?

Und so kannte jeder Jeden …  

Er fand schnell heraus, wo dieser dünne, ernste Mann wohnte, der sich in der Öffentlichkeit nie ohne Basecap zeigte. Aufgeregt drückte er den Klingelknopf, bis ihm auffiel, dass, a.) die Klingel nicht funktionierte, und b.) die Tür offen stand. Der sich anschließende Wortwechsel verlief so knapp wie alle, welche in den nächsten 20 Jahren folgen sollten: 

“Hello, Jens. Ich spiele Bass. Gar nicht mal so schlecht. Manche sagen, es klingt, als würde ich Gitarre spielen …()”

“Hi. Warum spielst du dann nicht gleich Gitarre?”

 “Ähem … weil du Gitarre spielst. Und ich mit dir zusammen ein Band gründen will!”

“Ok.” 

Sie wurden Freunde. Sie arbeiteten hart. Sie fuhren endlos lange Strecken und traten in leeren Sälen auf. Es war egal. Von nun an gab es – wenn auch flüchtige – Momente im Leben, in denen er für etwas brannte. Ansonsten änderte sich nichts. Der Gedanke, seine Zeit auf Erden nicht zu nutzen, hielt sich wie eine Zecke mit unstillbarem Blutdurst.

Der einzige Mensch auf Erden, der nie ein Problem gehabt hatte zu ihm durchzudringen, sein Opa Siegfried, hatte sich in der Nacht auf den Tag der Deutschen Wiedervereinigung für immer verabschiedet, indem er sich von einer Eisenbahnbrücke am Bahnhof-Mitte vor eine fahrende Straßenbahn fallen ließ. Das ultimative Statement, wenn man ihn gekannt hatte, dachte er oft. 

Seine Geschichten mit sich hinfort zu nehmen, war dem alten Mann allerdings nicht vergönnt gewesen. Siggi hatte es höchstselbst vergeigt: Was immer er ihm erzählt, welches Geheimnis er auch geteilt hatte: Sein Enkelsohn saugte sich voll damit wie ein Schwamm.

Klein-”Joey” würde es niemals zulassen, dass das vor Aufregung brombeerfarbene Leuchten auf seinen Wangen, wenn er Opas Stimme lauschte,  für immer erlöschen sollte. Nur weil Siggi mit dem Verlauf der Geschichte nicht klargekommen war, und den Tanz hier unten von jetzt auf gleich einfach aufgegeben hatte? Nicht mit ihm! Ein Schatz …  Eingesogen, sich einverleibt – Sein Schatz! Nun saß er darauf wie Gollum und verwaltete den Bestand. Bei Bedarf machte er scharf, was immer nötig erschien. Er setzte es ein wie eine Währung: War der letzte Klimbim verschenkt, band er seine “Freunde” eine Woche länger an sich, indem er eine gute Story aus der Tasche zog.

Wie so viele andere auch, wollte er geliebt und bewundert werden; reisen, unterwegs sein und am Ende wissen, wo sein Platz war. Er ging seine Karten durch: Ich spiele Bass in einer Band. Bin ich vielleicht zum Musiker geboren? Bald schrieb er hier und da auf Tour ein paar Beobachtungen auf, wanderte in den Versatzstücken von Opas Geschichten in zurückliegende, vermeintlich bessere Zeiten; an Orte, an denen sich das Leben bereits zu lohnen schien, wenn man einfach nur bei hereinbrechender Dunkelheit durch die laue Sommernacht spazierte oder, geographisch mindestens an der Pazifikküste, das weiche Schlagen eines Hawaii-Shirts aus weichem Rayon an der Schulter spürte – als Ausdruck einer Welt voller innerer und äußerer Geborgenheit. Konnte nicht vielleicht hinter all seinen Phantasie-Schlössern und Sehnsuchtsschwaden gar ein Leben als Schriftsteller verborgen sein?

Sobald ein Kameraobjektiv in seine Nähe kam, begann er hart an etwas zu arbeiten, was er das Projekt: markante Gesichtszüge nannte. Er zog beide Wangen eng an die Zahnreihen und pumpte die Luft aus dem Mund. Auf allen Fotos hatte er so immer ein und denselben Gesichtsausdruck, auch wenn der ihm gar nicht ähnlich sah. Bemerkenswert war, dass er dies trotz beträchtlicher Gewichtsschwankungen hinbekam, die sich immerhin in einem Spektrum von zirka 60 Kilo bewegten. Meist hieß das so um die 30 Kilo Übergewicht, bei Liebeskummer wurde aber auch nach unten voll ausgereizt: Dann war es, als sei er fortgegangen, obwohl er, wenn auch angeschlagen, doch immer noch da war. Vor dem Spiegel zu posieren, spielte in derselben Liga: Bereits zu Zeiten, als die kommende Selfie-Generation daumenlutschend die Praxen von ADHS-Spezialisten terrorisierte und die Masse der Leute Apple für Obst auf englisch hielt, hatte er sich ständig selbst fotografiert. Allerdings nur in Gedanken, einen Fotoapparat besaß er nicht. 

Er probierte so lange verschiedene Mimiken durch, bis ihm eine gefiel oder ihm einen Schrecken einjagte, was immer dann der Fall war, wenn sich eine neue Seite an ihm zu offenbaren schien. Panisch stoppte er den Vorgang, setzte erneut seinen typischen Fotoblick auf und genoss den haltgebenden Effekt, auf diese Weise den wirren Haufen seiner verschiedenartigen Ichs zu bändigen. Fürs Erste wähnte er sich in Sicherheit: Er sah doch aus wie Johnny Depp! Zumindest wie Johnny Depp in seiner Rolle als Hunter S. Thompson, in Fear and Loathing in Las Vegas. Für die Länge eines Wimpernschlags fühlte er sich mindestens so sexy, wie er Mr. Thompson cool fand, und Johnny, nun ja, Johnny war halt Johnny, neuerdings Pirat und eh nie da, wenn man ihn sowieso nicht gebraucht hätte. Was seine Kleidung anging, praktizierte er eine Art Method Acting, nur dass der Film dazu sein Leben war. Wenn er ein Buch von James Ellroy las, in dem es um die Hintergründe des Kennedy-Mordes ging, gabs Mobster-Style voll auf die Zwölf, inklusive schmalkrempiger Hüte und hauchdünner Schlipse. Nahm ihn James Lee Burke mit in die Bayous am Lake Pontchartrain nördlich von New Orleans, ließ er sich einen Schnauzer wachsen und kombinierte Dickies-Pants mit Hawaiihemden und Strohhüten. Bei Don Winslows Tage der Toten wiederum durfte der Schnauzer dranbleiben, diesmal in Kombination mit Westernhemd, gigantischem Buckle, Cowboy-Boots und braunen Wrangler-Wrancher-Hosen aus Polyester von Shepler’s. Dummerweise waren textile Äußerlichkeiten noch lange nicht alles: Sämtliche Requisiten, sprich Einrichtungsgegenstände, wurden den gleichen strengen Anpassungsregeln unterworfen. Was nicht zum neuen, aktuellen Image passte, wurde augenblicklich entsorgt. Den Gedanken, dass der Inhalt eines verborgenen Koffers auf komplexe Zwanghaftigkeiten verweisen könnte, ertrug er nicht. Zu einem Problem wurde dieses Maß an Konsequenz, sobald ein abgewähltes Image eine Wiederauflage erfuhr, oder ein neuer Roman eine der großen, sein Leben begleitenden Obsessionen weiter erzählte – und er alles für teures Geld wiederbeschaffen musste.  

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Ostblocks, welche zur  Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten geführt hatte, schien das Weltgeschehen zur Ruhe zu kommen. Die Sowjetunion zerfiel in tausend Stücke und musste zusehen, dass etwas von ihr übrig blieb. Der Kreml hatte keine Zeit, sich mit den zunehmenden Demütigungen durch den Westen zu befassen und nahm sich vor, dies irgendwann später aufzuarbeiten. Manche sprachen vom Ende der Geschichte. 

Aber das sollte sich als Illusion erweisen: Die Vergangenheit und alles was aus ihr entstanden war, löste sich nicht einfach in Wohlgefallen auf. Im Maghreb und im ewig währenden algerischen Bürgerkrieg gärte es, der schwelende Konflikt im Kaukasus und auf dem Westbalkan trug seine Rauchschwaden bis über die Grenzen hinein nach Österreich. Aber wer in Zentraleuropa interessierte sich schon für Österreich? Niemand konnte und wollte sich vorstellen, dass schon bald deutsche Jagdbomber, ausgerechnet von einer rot-grünen Regierungskoalition ausgesandt, als Teil einer von den USA geführten Koalition ihre Ziele über der Innenstadt von Belgrad finden würden. Überhaupt folgte die Geschichte, ebenso wie ein Krieg, wenn er einmal entfesselt war, keinem noch so smarten Masterplan. Wenn man überhaupt von einer Pause in der Weltgeschichte hatte sprechen können, war diese spätestens an einem sonnigen Septembermorgen im Jahre 2001, über dem wolkenlosen Himmel von New York City zu Ende gegangen. 

Aber so sehr sich das große Rad der Geschichte auch in diesen Zeiten wie wild drehte, für die meisten Menschen im Westen – geschah dies bisher eher am Rande ihres Lebens. In Deutschland zumindest, ließ sich niemand groß beirren. Man hielt es mit deutscher Seelenruhe und politischer Gemütlichkeit. Da der Deutsche, wie wir von Mrs. Lee Miller wissen, in seiner Gesamtheit recht schizophren geprägt ist, stand dies in keinerlei Widerspruch zur sprichwörtlichen “German Angst”, für die man in der ganzen Welt seinen Ruf weg hatte. Was ein wenig zu viel der Ehre war, in der Hauptsache handelte es sich um geistige Träg- sowie Obrigkeitshörigkeit, welche sich – zumindest solange niemand zum nächsten Weltkrieg blies – in Dauer-Genörgel an Stamm- und Küchentisch niederschlug.

Regiert wurde das Land von Kanzler Schröder, einem stattlichen, neuerdings quasi staatlichen Alpha-Exemplar von einer gewissen Lebensart. (Siehe auch: Urlaub in Italien, Mode und Kulinarik, sprich, wenigstens ein bisschen Horizonterweiterung.) Signore “Ich könnte ein besserer Berlusconi sein”-Schröder dinierte mit Wirtschaftsbossen, schmauchte genussvoll kubanische Zigarren und machte einen auf dicke Brioni-Hose. Er versuchte die selben Leute zu weniger Raubtierkapitalismus zu überreden, denen er ihr Handeln mit der schwachen Regierung, der er vorstand, überhaupt erst ermöglichte. Außer der einen oder anderen mittellosen Frau mittleren Alters konnte der Mann rein gar niemanden beeindrucken. Die Menschen hörten auf, sich für Politik zu interessieren. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten oder gingen einkaufen. Die Menschen in Ostdeutschland hatten, obwohl nun hochoffiziell Teil des “Westens”, in der Regel jedoch einen etwas zu geringen Verdienst, um pausenlos einkaufen gehen zu können. Auch waren sie es nicht gewohnt, sich allein um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Im ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat hatte man ihnen das – wenn auch oft nicht so ganz in ihrem Sinne,  aber doch immerhin – abgenommen. Mit ihrer neugewonnenen Freiheit konnten die Leute daher nur wenig anfangen. Wie in einer gläsernen Kuppel, welche die Luft zum Atmen nahm, legte sich eine diffuse Unzufriedenheit über das Land.

Für ihn selbst hatte es keinen Grund gegeben, unzufrieden zu sein. Es fielen bisher keine Bomben, stattdessen kam heißes Wasser aus der Leitung. Man konnte jeden Tag heiß duschen und sich den Scheiß noch halbwegs leisten. 

Aber wenn er so darüber nachdachte, hatte er sich insgeheim doch etwas mehr versprochen, von seinen Dreißigern. Nach weit über zwanzig mehr oder weniger ereignislosen Jahren, war das nur natürlich. Irgendwann musste es ja mal losgehen. Letztendlich waren jedoch weitere Lebensjahre ins Land gegangen; Jahre, in denen ebenfalls nicht sonderlich viel passiert war. Er nahm keine Drogen, stattdessen trank er. Aus der Rolle fiel er selten, zum Glück vertrug er einiges. Außerdem ging er selten aus. 

Als ihn eine neugierige junge Lady eines Tages fragte, wie es ihm ginge, erklärte er, dass er nicht damit gerechnet habe, wie zähflüssig sich alles anfühlen würde. Es gab gute und schlechte Tage. Wenn man das nicht kapierte und lernte, die Guten auszukosten und die Schlechten wegzustecken, würde man eines Morgens plötzlich nicht mehr aufwachen und auf Nachfrage die Antwort erhalten, dass es das jetzt gewesen war – da man, bedauerlicherweise, sein Leben schlichtweg verpasst habe. 

Er gab sich Mühe, und viel zu oft viel zu viel davon. Er las wie besessen, schrieb Songs oder fuhr auf den Highways in seinem Kopf hin und her. Wenn er unglücklich war, oder die Anspannung zu groß wurde, holte er sich fünfmal … ok, zweimal hintereinander einen runter und ging anschließend zum Griechen sich den Wanst vollhauen.

Er wurde fett. Die Frauen liefen ihm davon – nicht schreiend, eher desillusioniert – darunter auch eine von der Sorte, die er um alles in der Welt hätte für immer halten wollen. Seine Bands, für deren Erfolg er hart gearbeitet hatte, zerbrachen eine nach der anderen. Manchmal gab er sogar als Erster auf – und konnte sich dies im Nachhinein nicht immer selbst erklären. Er traf richtige und falsche Entscheidungen. Alles in Allem nichts, was es zu bereuen gab.