Joe Meyser - catskill, new york – 2005

catskill, new york – 2005

1

Der Frühaufsteher in ihm arbeitete zuverlässig gegen die Angst an, während seines, allem Anschein nach recht kurzen Aufenthalts auf Erden, irgend etwas von Belang zu verpassen. Nichts war aufregender als erst einmal loszuziehen, wach werden konnte man unterwegs. Der schmutzige kleine Diner an der Main Street würde noch nicht geöffnet haben, das wusste er. So what, er hatte sich dort eh nicht besonders wohl gefühlt. Die Betreiber gaben ihm das Gefühl, nicht sonderlich willkommen zu sein. Ein Umstand den er, zumindest in Amerika, nicht bereit war einfach so hinzunehmen. Und so ging er nicht, wie sonst, über die alte stählerne Brücke am Hudson River, sondern entschloss sich, die Gegend in der Nähe von Denny’s Haus zu erkunden. Er hoffte, sein innerer Kompass – in unbekanntem Terrain auf eine Imbissbude zu stoßen, welche billiges Essen und heißen Kaffee anbot – würde ihn auch an diesem Morgen nicht im Stich lassen.

Keine fünf Minuten später stolperte er in einen Deli, einen winzigen Drugstore direkt an den Bahngleisen. Er lief zwischen den Reihen mit allerlei Krimskram hindurch, schielte verstohlen auf die verstaubten Verpackungen an Knabbereien in den Auslagen, die aussahen als sei ihre Produktion bereits anfang der Achtziger Jahre eingestellt worden und arbeitete sich bis zur Kasse an der Stirnseite des Ladens vor. 

Ein Mann stand hinter der Theke, ein anderer saß auf einem Barhocker davor. Ansonsten schien er der einzige Gast zu sein. Die beiden sahen aus wie zwei junge Kerle, deren herumexperimentieren mit einer selbstgebastelten Zeitmaschine schwer daneben gegangen war: Ihre zerknitterten Gesichter verrieten, dass sie weit in ihren Siebzigern sein mussten, ihre Silhouetten ließen sie auf den ersten Blick jedoch weitaus jünger erscheinen, da sie wie Homeboys gekleidet waren. Wenn man genauer hinsah, hatte allerdings alles seine Richtigkeit: Sie trugen Mesh-Caps, die klassischen Trucker-Baseballkappen von OTTO, durch deren Netz aus Plastik zwei gleichermaßen kahle Köpfe schimmerten. Ihre Arbeitshemden sahen aus, als wären sie die ersten, welche die Firma Red Kap je aufgelegt hatte, und ihre spindeldürren Beine steckten in O-Dogs von Dickies, die ihnen beiden viel zu weit waren. Man hätte meinen können, der Besitzer und sein einziger Gast seien Brüder.    

“Guten Morgen, allerseits!”, trompetete der Deutsche.

“Howdy”, knurrte es unter den Schirmmützen hervor.

“Gibts bei Euch auch was ordentliches zu essen? Hab einen Mordshunger! Aber zuerst hätte ich ganz gern einen heißen Kaffee! Schwarz!”

“Well, wie wärs mit einem Truthahn Sandwich, Sir? Mach ich Ihnen frisch, wenn se’ Zeit haben”, sagte der Mann in dem Kabuff, während er dampfenden Kaffee in einen eigenartigen Metallbecher goss, von der Sorte, den auch der andere Mann vor sich stehen hatte.

“Crazy, diese Dinger sehen ja aus wie die, die wir früher im Osten hatten! In allen Größen! Made in China stand da immer unten drauf. Man konnte Milch in ihnen warm machen …, aber aus den Kleinen wurde durchaus auch Kaffee draus getrunken. Krass, hab ich in Amerika noch nie gesehen. Eigentlich habt Ihr doch immer diese geschwungenen Steingut-Dinger am Start … ”, sprudelte es überdreht unter der Goldrandbrille des Deutschen hervor.  

Die beiden alten Männer schienen – simultan, wie bei allem worin sie sich einig waren – zu bereuen, an diesem Morgen noch ein weiteres Mal wach geworden zu sein. Widerwillig musterten sie den Anlass für solcherart düstere Erkenntnis, ließen ihre Blicke verstohlen über die golden glänzenden Messingknöpfe und das lachsfarbene Jackett dieses Fremden gleiten, der sich hier am frühen Morgen als gottverdammte Akustik-Bombe entpuppte. 

“Stimmt etwas nicht, Sir? Ich meine, ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mister?”, brummte der Mann hinter der Bar ohne sich ihm zuzuwenden und schnitt mit einem langen Messer bedächtig weiter helles Fleisch in Streifen. 

“Oh, äh, schon gut, Sir. Entschuldigen Sie, mich haben diese Dinger nur an meine Jugend in Deutschland, ich meine, in Ostdeutschland erinnert. Vielleicht haben die Herren ja schon mal was von der Deutschen Demokratischen Republik gehört?”

“Nein, ich denke nicht. Sir … Ihr Sandwich ist fertig.”

“Oh, Wow, da ist wohl fast ein kompletter Truthahn dafür draufgegangen, was? Hehe! Top, genau das richtige jetzt …, ach übrigens, ich vergaß mich vorzustellen, meine Herren! Meyser mein Name!” 

Er wandte sich dem alten Mann zu seiner Linken zu und streckte seine Hand aus. “Johannes. Aber Sie können auch Joe zu mir sagen.”

There you go, Sir!”, knurrte der Mann hinter der Theke und stellte den Teller ab. 

Meyser starrte auf seine in der Luft verharrende, ausgestreckte Hand. Der Mann, dem er sie darbot, studierte stoisch den Boden seines Kaffeebechers. Er musste dort etwas extrem Aufregendes entdeckt haben, etwas, was seine gesamte Aufmerksamkeit erforderte. Meyser kostete den in ihm aufkommenden Schub aus Scham und Wut über die Zurückweisung voll und ganz aus. Diesmal war es keine Einbildung! Ihm schlug hier ganz klar Ablehnung entgegen!

Mit einem schiefen Grinsen zog er seinen Griffel zurück und setzte sich. In dem Mann neben ihm, erwachte überraschenderweise so etwas wie Leben: 

“Germany…, sie sagten grad was von Germany, richtig?”, murmelte er. “War diese, was auch immer … Republik, schon im Krieg ein Teil von Deutschland?

“Äh…, ja natürlich!”, in Meysers Blutbahn schoss längst verloren geglaubtes Leben zurück, seine Stimmbänder surrten beflissen:  “Ich bin aus Dresden, einer der schönsten Städte die …”.

Der alte Mann zuckte zusammen. Er ruderte spastisch mit den Armen. Wie ein Schattenboxer, der etwas vertreiben will, das außer ihm niemand sieht.

“Oh, ich kenne Dresden”, stieß er keuchend hervor. “Ich war in der Air Force, Mann.” 

Während dieser kurzen Ansprache war sämtliche Farbe aus dem Gesicht des alten Mannes entwichen. Ohne weitere Erklärungen senkte er den Kopf, bis der Schirm seiner verschwitzen Kappe auf dem Rand seines leeren Bechers zu liegen kam. Dann erstarrte und verstummte er, als sei dies ein und derselbe Aufwasch. 

Dafür setzte nun Meyser, scheinbar alles vergessend, was ihm zuvor widerfahren, zu einem wilden Monolog an: Er rauschte durch die Stationen seines Lebens, verkündete allerlei Spontanansichten und brannte fast durch. Hätte auch nur das geringste Interesse an seiner Person bestanden – es wären keinerlei Fragen offen geblieben. 

Bis er mitbekam, dass er sich, wieder einmal, erfolgreich um Kopf und Kragen geredet hatte, war er sehr zufrieden mit sich gewesen. Als es kippte, so wie es immer irgendwann kippte, begann er erneut zu schmollen, auch wenn er sich, ebenso wie immer, fest vornahm, wenigstens nach Außen hin irgendwie darüber zu stehen. Als es alles nichts half, holte er innerlich zum ultimativen Rundumschlag aus: Es gelang ihm, zunächst testweise und nur vor sich selbst, aus sich ein, wenn auch indirektes, Opfer des Infernos vom 13. Februar 1945 zu machen. Ein Opfer, welches von den Tätern ein wenig mehr Respekt erwarten durfte … 

An diesen Unsinn versuchte er zumindest lange genug zu glauben, um mit verkniffenen Gesicht seine Rechnung zu zahlen und sich einzureden, zumindest bis raus auf die Straße eine Spur von Souveränität auszustrahlen. Sollten die zwei alten Knochen doch an ihrem schlechten Gewissen verrecken. Er wäre bereit gewesen, die Hand zur Versöhnung …

2

Als die beiden alten Männer wieder unter sich waren, räusperte sich der Barmann und berührte seinen Bruder sanft an der Schulter: “Was wollte der denn darstellen, Mann? Ich glaub fast, das weeß der selber nich! Völlig egal was der is’, vielleicht isser’ ja Musiker oder’n erfolgloser Schauspieler, oder gar’n Pornodarsteller oder sowas? Manchmal seh’n die so aus, Mann. So’n bisschen wie ‘ne Schwuchtel, wenn du mich fragst …” Er verstummte für einen Moment, und lauschte dem Summen der Kühlbox in seinem Rücken. Dann versuchte er es erneut:  “Ist doch egal wo der herkommt, Bro. Heilige Scheiße, im Krieg waren viele, Bruder. Da passierten eben Dinge … Zur Hölle, du hast nur deinen Job gemacht! Warst ja schließlich nich’ in den Kennedymord verwickelt, oder sowas …”. 

Der alte Mann sah ächzend von seinem Becher auf und fixierte sein Gegenüber, also würde er in den Spiegel schauen. Dass sie vom selben Blut waren, hatte in seinen Augen zeitlebens weit weniger Bedeutung gehabt, als die natürliche Zuneigung, welche sie füreinander empfanden. Tatsächlich waren sie Zwillinge, obwohl er wusste, dass er älter aussah. Das lag wohl am Krieg. Sie waren sich immer einig gewesen, seit die Maschine ihrer Eltern damals auf einem Flug nach Atlanta abgestürzt war und sie sich hatten alleine durchschlagen müssen: Der eine kämpft für Amerika, der andere sorgt für das Brot auf dem Tisch.

“Das letzte mal als du so gesprächig warst, hat Helen noch gelebt … ”, sagte er und versuchte sich gar nicht erst an einem Grinsen. “ Gott hab sie selig”, fuhr er mit brüchiger Stimme fort. “Die Sache ist die, es ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht darüber nachdenke … Diese gottverfluchten Nazis haben mit der Scheiße angefangen. Also sollen sie in der Hölle schmoren. Andererseits, so glaube ich, gibt es keine guten Gründe für etwas, dass falsch ist. Es bleibt falsch. Und holt einen irgendwann ein.”

3

Unterdessen thronte Joe Meyser in der Mitte einer verrosteten Fußgängerbrücke  über einem Gewirr aus stillgelegten Bahngleisen und schlug sich mit der Frage herum, warum, in drei Teufels Namen, er in kritischen Situationen oft so kindisch und unsicher reagierte. Am Ende war das vollkommen egal: Er würde der sentimentale Arsch bleiben, der er immer gewesen war. (Kein Sport, aber sich stattdessen den Wanst vollhauen. Nichts lernen zu wollen, wozu es ihn nicht von selbst hinzog. Und tödlich beleidigt reagieren, wenn die Ladies, nach einem Seitenblick auf einen Mix aus begierigen Schweinsäuglein und nimmersatten Hamsterbäckchen, lieber in die andere Richtung strahlerten.) 

Und dennoch: Die Person, die er für sich selbst hielt, begann sich plötzlich seltsam beflügelt, ja fast privilegiert vorzukommen, durch die Begegnung mit dem ehemaligen Air Force Mann. Der komische Kauz hatte in einer fliegenden Festung gesessen und den Bombenschacht geöffnet, während seine Großmutter, die er nie kennengelernt hatte, mit ihrem Baby, seinem Vater Manfred, durch die Ruinen der brennenden Stadt geirrt war. So oder so ähnlich hatte es ihm sein Großvater Siggi erzählt. Er hatte gespürt, dass das nicht die ganze Geschichte war, aber der alte Mann hatte sich nichts weiter entlocken lassen. Stattdessen hatte er seine Rosinenstuten mit Butter beschmiert und sie vor dem Verzehr methodisch übereinander gelegt, so dass sie aussahen wie der schiefe Turm von Pisa, nur mit Rosinen drin. 

Heilige Scheiße. Scheiß Royal Air Force. Scheiß US-Bomber Command … Andererseits, wer hatte denn mit dem Mist angefangen? Egal war das nicht. Trotzdem blieb es ein riesiger Haufen Scheiße. Dieser alte Knochen da unten, in dieser billigen Kneipe, in diesem gottverlassenen Kotznest hier, am fucking Arsch der Welt, der wusste mehr von seiner eigenen Vergangenheit, als er selbst. Der war seinen direkten Vorfahren in deren Jugend näher gewesen, als es ihm je vergönnt sein würde. Und sei es auch nur, um ihnen die Köpfe wegzubomben. 

‘Was solls, hätte der alte Sack damals ganze Arbeit geleistet, wäre ich ihm heute nicht auf die Pelle gerückt …’, dachte er beschämt und triumphierend zugleich, ein Aggregatzustand, auf den er sich hervorragend verstand. Dann sah er plötzlich den alten Siggi Meyser vor sich, seinen achso schmerzlich vermissten Großvater. Ihm wurde bewusst, dass er lange nicht an ihn gedacht hatte. Er hörte seine Stimme, wie er von Greta und Manfred erzählte. Und von Al und Rufus und all den anderen, die nach dem Krieg nach Amerika gegangen und deren Spur sich für immer verloren hatte.

Als würde jemand einen Schalter umlegen, setzte er sich in Bewegung. Nichts verabscheute der Deutsche mehr, als zu spät zu kommen. Logisch, wofür war man auch sonst deutsch? Er schwenkte lässig seine Boots aus der Hüfte und fühlte sich – wie hätte er es ausdrücken sollen – irgendwie bedeutsamer. Als hätte er eine Ahnung davon bekommen wie es ist, wenn ein Mann eine Geschichte hat. 

Auch wenn es nicht die seine war.