Joe Meyser - day OFF in manhattan 2001

day OFF in manhattan 2001

Vier Wochen später, erster OFF-Day auf Tour, Anfang Juli in New York. Wie immer wenn er in der Stadt war, ging er zu Fuß über die Manhattan Bridge bis nach Brooklyn, kaufte sich ein paar schmale Krawatten für eines seiner anderen Ichs, und lief anschließend den ganzen Weg zurück. (All dies im Schneckentempo – es gab viel zu sehen und er wollte nichts davon verpassen. Dabei interessierten ihn keinerlei Sehenswürdigkeiten. Er wollte einfach nur in Bewegung bleiben und den Menschen dabei zusehen, wie sie ihrerseits vorbeizogen.)

Er durchquerte die Lower East Side bis rauf nach Midtown zur 42sten Straße an der 8th Avenue und verschwand in einem vollkommen runtergeranzten Block aus den frühen Siebzigern. Die Buchte sah aus, als würde sich die Hotelkette Days-Inn bereits seit Jahrzehnten erfolgreich um die längst überfällige Generalsanierung des Gebäudekomplexes drücken. Wozu auch? 

“Sie sind hier in Manhattan, Sir. Allein dafür berechnen wir ihnen 1000 Bucks die Woche. No service, no nothing, no thank you. Die AC funktioniert doch, oder etwa nicht? Wir empfehlen Ihnen aber jederzeit eines unserer hervorragenden Häuser drüben in New Jersey, mal sehen, ich glaube, da lässt sich sogar noch ein kostenloses Upgrade arrangieren …”

Er holte sich unter der Dusche einen runter und wechselte das Hemd. Anschließend tigerte er mit nackten Füßen über den dicken Teppich und war dermaßen aufgeregt, dass er Angst bekam, es könne sich um Herzrhythmusstörungen handeln. Fünf Minuten später war er zurück auf der Straße. In seinen Kopfhörern gab sich David Sylvian alle Mühe: Er sang berührend über mannigfaltigen Beziehungsstress, sowie das seelische Martyrium schmerzhafter Trennungen. Er selbst war alles andere als erleichtert, dass ihm solche Angelegenheiten im Moment erspart blieben. Anstrengend waren Frauen nur, wenn man sie nah bei sich hatte. Immerhin hatte er 500 Dollar Vorschuss auf Tasche, die er, wie er bereits jetzt wusste, für irgendwelchen Krempel ausgeben würde, der null, zero, nada gegen die Einsamkeit half. 

In einem “kubanischen” Restaurant gönnte er sich ein Steak mit Papitas Fritas (Wie jedesmal, wenn er vorhatte mehrmals in das gleiche Lokal zu gehen, hatte er dort einige Tage zuvor und ohne große Gegenwehr des Personals einen Becher sour cream im Kühlfach der Küche deponieren lassen.)

Mit vollem Magen und neuer Zuversicht im Herzen überlegte er, wo er auf ein paar Ladys treffen könnte, deren progressive Einstellung es ihnen verbieten würde, seinen finanziellen Status gleich zu Anfang einem allzu hartnäckigen Scan zu unterziehen. Er entschied sich für ein Folkkonzert im Village Bistro in der Carmine Street. Zu seinem größten Bedauern bestand das Publikum in der Hauptsache aus jungen, gutaussehenden Männern, welche äußerlich sowohl Jesus Christus als auch dem jungen Bob Dylan ähnelten und deren Selbstbewusstsein offenbar dem eines erfolgreichen Wall St. Brokers entsprach. Die wenigen anwesenden Frauen sahen zwar aus wie Blumenmädchen, aber sie fuhren voll auf diesen Mix ab. Er selbst leerte 4 miese Biere für knapp 40 Bucks plus Tip, was keinerlei Sinn ergab, die Plörre war gleichermaßen ungenießbar wie wirkungslos. Im Grunde hätte er problemlos die Kasse ausrauben können – er fühlte sich so dermaßen unsichtbar, dass er es wohl tatsächlich auch war.

 In einer Art Verzweiflungstat baggerte er nach der Show die Sängerin an. Ihre Interpretation von Songs, die er liebte, hatte ihm vor Abscheu jeden einzelnen Fußnagel derart weit nach oben gebogen, dass man durch die so entstandene kreisrunde Öffnung einen Finger hätte hindurchstecken können. Was ihn an den Sinn der Übung erinnerte. Nach der darauffolgenden ebenso krachenden wie vollauf verdienten Abfuhr zog er sich beleidigt auf sein Zimmer zurück.

Er wusste nicht, ob er überhaupt geschlafen hatte, aber gegen vier Uhr morgens war er hellwach. Wenn Big Apple schon niemals schlief, sah auch er keine Veranlassung dazu. Schlafen konnte man in Deutschland zur Genüge, mit geschlossenen Augen ließ es sich dort eh viel besser aushalten. 

Mitten in der blauen Stunde, in der die Schwankenden gingen und erste, noch Erschöpfte kamen, streifte er über die 6th Avenue. Er blinzelte in den glutroten Ball der aufgehenden Sonne, deren erstes Hervorblitzen hinterm Horizont er verpasste, weil er im entscheidenden Moment einer großen, schlanken Frau mit blasser Haut und streng nach hinten gebunden, pechschwarzen Haaren auf den Hintern starrte. 

Er sah den Trucks der Straßenreinigung zu, wie sie den Asphalt mit Wasser besprenkeln und trank heißen Kaffee aus einem Pappbecher. Er fühlte sich, wie man so schön sagt, elektrisiert, was nur bedeuten konnte, dass ihm kein originelles Bild dazu einfiel, seine Euphorie zu beschreiben. Was nicht oft vorkam. Also versuchte er es eins zu eins und wurde prompt zum Opfer einer seiner Übertreibungen, von deren Urheberschaft er sich augenblicklich freisprach: ‘Es hat nichts Tendenziöses an sich …’, dachte ein Teil von ihm. Ein anderer Bereich in seinem Hirn maulte, er solle endlich Ruhe geben und raunte ihm zu: ‘Würdest du bitte erst mal denken, worauf du hier schon reagierst? Du bist schließlich keine Frau und wirst es niemals sein, also solltest du dich an solch komplexen Dingen gar nicht erst versuchen! Du hast es einfach nicht drauf, ok?!” Außerdem bräuchte es jetzt Platz hier, für den eigentlichen Gedanken und so weiter und so fort. 

Also los: ‘Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als die noch leeren, dampfenden Straßen an einem Sommermorgen in Manhattan!’ 

Na also, geht doch.

Als er sich – für den Moment wenigstens – mit sich selbst einig geworden war, zog er weiter, kaufte sich einen Bagel und wies den Verkäufer an, das unnütze Grünzeug wegzulassen. Mit reichlich Lachs und Frischkäse sei er vollauf zufrieden …

 Er schlenderte über die Morton Street bis hinunter zum Hudson, setzte sich am Pier auf eine Bank und gönnte sich ein bis drei Winston Lights. Die Marke leistete er sich nur in New York, die waren geradezu pervers teuer, aber er hatte eine Schwäche für die silbern- und bronze-glitzernde Verpackung, welche total anders aussah als die hässlich-rötliche in Deutschland. 

Es war kurz vor halb acht in der Früh. Er starrte auf die graue Brühe des Flusses und fühlte sich plötzlich alt. Die eine Million Kippen, die nutzlosen Drinks und all der brainfuck der letzten Nacht forderten ihren Anteil an seiner Erschöpfung ein. 

Armeen von joggenden New-Yorkerinnen schwebten vorbei. In ihren Einheitsuniformen, bestehend aus grauen Kapuzenpullis und knallengen Leggings, garniert mit kleinen, weißen Ohrsteckern, welche an einem weißen Kabel irgendwo in den Tiefen ihrer Bauchgegend zur Soundquelle, dem standesgemäßen I-Pod führten; sowie ihren braunen, langen Haaren samt den obligatorisch blonden Strähnchen – welche, ganz dem Anlass entsprechend, zu einem züchtigen Pferdeschwanz hochgebunden waren – sahen sie aus, wie die gesamte weibliche Bevölkerung Schwedens, welche – vorausgesetzt sie waren zwischen 20 und 30 Jahre alt – ihrem Heimatland für immer den wohlgeformten Rücken gekehrt hatten. Er grinste breit über die auf- und abwippenden Ohren der jungen Damen und schalt sich innerlich unmöglich!

 Wie er ihnen so zusah, begann er sich zu fragen, wie die Ladys das eigentlich Morgen für Morgen hinbekamen: Mehr oder weniger, waren es durch die Bank weg schöne Frauen. Hatte Michael Bloomberg nicht soeben erst ein Gesetz erlassen, dass es Rauchern und hässlichen Frauen streng untersagte, sich am hellerlichten Tag in Manhattan in der Öffentlichkeit zu zeigen? Oder verwechselte er da etwas und das waren einst die Nazis gewesen? Aber wie waren die bis nach New York City gekommen? Im U-Boot? Echt? Naja, immerhin fast. Aber das war alles ewig her … 

Egal, diese joggenden Bräute, oder ein Großteil von ihnen, hatten also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in der Nacht Sex gehabt. (Frisch geduscht und wenn der Kerl Glück hatte, aus jeder Pore nach L’INTERDIT von Givenchy duftend) Anschließend würden sie sich ordentlich ins Zeug gelegt haben, eine Frau von Welt ließ sich schließlich nicht mit jedem ein, aber wenn, dann richtig, nicht wahr? Also waren die Damen gehörig ins Schwitzen gekommen, und entweder war das Sperma gleich in ihnen gelandet, wo es natürlich wieder rauslief wenn sie aufstanden, oder aber, es bildete auf ihrem Bauch eine mehlige Kruste, die sich leicht anspannte, wenn sie in aller Herrgottsfrühe ins Bad schlichen. Ergo, ging es erst mal wieder unter die Dusche. Anschließend rein in die Sportklamotten und runter zum Hudson. Nach dem Joggen duschten diese umtriebigen, gesundheitsbewussten Ladys logischerweise wieder, nun schon zum dritten Mal. Anschließend machten sie sich erneut  zurecht, was in New York, bzw. mit fortschreitendem Alter der betreffenden Probandin, sicherlich mit einigem Zeitaufwand verbunden war. Wenn diese Grazien also so gegen neun Uhr morgens im Büro einer Anwaltskanzlei oder wo auch sonst ihren Arbeitstag begannen, hatten sie bereits ein stattliches Programm hinter sich … 

Aber was ging ihn das eigentlich an? Er hätte im Moment alles dafür gegeben, zusammen mit einer junge Dame unter der Dusche zu landen und den Hahn aufzudrehen. Sein Jackett, welches, dem in der linken Innentasche angebrachten Label der US-amerikanischen Textilarbeiter-Gewerkschaft zufolge, aus dem Jahre 1969 stammte, lag achtlos neben ihm. Aber selbst in dem Freizeithemd von SEARS – ebenfalls aus den Siebzigern und aus einem weichem, nicht knitterndem Synthetik-Stoff gefertigt – schwitzte er wie Bukowski, wenn der sich mit seiner deutschen Frau gestritten hatte. Nun hör doch ma auf … Hast ja recht. Er zwang sich, an etwas anderes zu denken, als an eine saftige Muschi die ihm die Luft zum atmen nahm und fingerte versonnen an der braunen Papiertüte herum. Liebevoll fischte er den Bagel heraus, ein herzhafter Biss in diese grandiose New Yorker Spezialität spendete augenblicklich Trost. Glücklicherweise gab es außer der Liebe, der Musik und der Literatur noch die Völlerei in seinem Leben, der sich leidenschaftlich frönen ließ …