Joe Meyser - Introduction

Introduction

Stellt sich also erst mit deutlichem Abstand, zeitlich wie geographisch, der Blick fürs große Ganze ein? Nun, immerhin ist meine gesamte Argumentation auf diesem Gedanken aufgebaut. Warum sonst gruseln sich die Deutschen bis zum heutigen Tage bei dem Gedanken an die Ermordung des 35. US-Präsidenten, während jedem Ami mit Allgemeinbildung etwas zum 13. Februar 1945, der Bombennacht von Dresden, einfällt? Außerdem: Damals drohte ein Atomkrieg, heute droht ein Atomkrieg, aber die Leute jammern rum, weil die Butter teurer wird oder ukrainische Mütter samt einer Legion Kleinkinder unendlich scharf drauf sind die örtliche Turnhalle zu blockieren, weil sie – halt dich fest – angeblich unbedingt dort wohnen wollen!

Wer älter wird, hat die Wahl zwischen stumpf oder sentimental. In meinem Fall bedeutet das: Heutzutage will ich verstanden werden, damals wollte ich verstehen. Wissen wie der Hase läuft, im Vorbeigehen ein paar Mysterien enträtseln. Also warum nicht gleich das Größte von allen, den Kennedy-Mord?

Ich las alles über JFK’s Präsidentschaft und den 22. November 1963. Ich bildete mir ein, wenn ich dieses größte aller Rätsel lösen könnte, würde ich Lüge und Wahrheit in den Geschichten Anderer quasi sehen können. Ich verschlang Don DeLillo’s Sieben Sekunden – wieder und wieder, bis Sieben Jahre daraus wurden und stritt mich in Gedanken mit Stephen King über die These vom Einzeltäter. Norman Mailers Buch über Oswald und sein “Epos der geheimen Mächte” gerieten zur Enttäuschung, das Literaturverzeichnis hinten in den beiden Bänden setzte meine Welt in Brand. James Ellroy und Oliver Stone warfen frisches Holz ins Feuer, ein Investigativjournalist namens Mathias Bröckers gab mir vollends den Rest. (Der Mann war zwar auch nicht als Erster auf dem Mond, dafür pickte er in den unendlich vielen Wahrheiten über den Kennedy-Mord diejenige raus, welche mir mit Abstand – sowie dem gebührenden Abstand, siehe Aufhänger –  den größten Stromstoß verpasste.) 

In der Zwischenzeit katapultierte es mich immer mal wieder zurück auf Start, sprich, ich landete bei einem gewissen Lee Oswald. Wie hatten diese ausgefuchsten Schreiberlinge das nur hingekriegt?, ließ ich meine typisch sächsische Kinnpartie nach vorn schnellen. Oder lag ich vollkommen daneben, und es handelte sich lediglich um die mir innewohnende Sehnsucht nach einfachen Antworten? Denn verstehen zu wollen allein, reichte nicht. Dafür brauchte es echtes Wissen. Das hatte ich nicht. Andere haben da weniger Skrupel. Es ist wie in den alten Zeitungen – je länger man die absoluten Gewissheiten anderer Leute studiert, desto mehr verliert man das Interesse. Mindestens die Hälfte davon muss absoluter Nonsens sein … 

Zähneknirschend rang ich mich dazu durch, meine universelle Uninformiertheit anzuerkennen. Damit spielte ich immerhin in meiner eigenen Liga und stellte eine Art Punktegleichstand her: Ich würde nicht irgendwelchen Scheiß erzählen, ich würde meinen wilden Scheiß erzählen.

Seither halte ich mich allein an das, was im Netz mit drei Klicks zu finden und Jedem zugänglich ist. Wie wäre es, dachte ich, wenn man die unendlich vielen, z. T. abstrusen historischen Wahrheiten in Bezug auf den Kennedy-Mord einfach übereinander legt? Eine Milliarde “Rorschach-Tests” – wie Mathias Bröckers in diesem Zusammenhang schreibt – und in der Mitte ploppen in dicken Lettern die Namen, bzw. Grabstein-Inschriften von Tätern und Auftraggebern auf? 

No, Sir.

Aber was sagen Sie dazu, wenn wir zusammen eine Ahnung davon entwickeln, wie diese sogenannte historische Wahrheit entsteht, bzw. gemacht wird? Wie sie ins Internet …, sprich, ins allgemein verallgemeinerte Allgemeinwissen einsickert? Investigativjournalisten leben von ihren Informanten – siehe Watergate – aber vielleicht gilt das umgekehrt ja ganz genauso? Wenn ja, mit welchem Ziel kommt so eine angebliche Exklusiv-Info dann beim Leser, oder der am Ursprung von Terroranschlägen auf die europäische Energieinfrastruktur interessierten Leserin an? 

Sie werden es nicht glauben, so um 2000 herum, als ich gerade begann, mein gift- und gallisches DD-Dörfchen als Teil der Bundesrepublik anzusehen, klappte es dann doch noch mit dem Trip über den großen Teich. Auf meinen Touren als Bassist von Chris Whitley, ich meine Wiz Cromley, durch dieses weite Land voller wundervoller Menschen und degenerierter Vollidioten, stellten die Shows, so unvergesslich sie mir heute erscheinen, lediglich die Pflicht dar. Die Musik spielte jenseits der Bühne. Dort lief der Soundtrack meines Lebens: Der Geruch von Amerika …, ok, von Strawberry-Duftkerzen, die Neonlichter eines plüschigen Nachtclubs mit Blick auf die Skyline von Chicago, ein Original-Sixties-Sharkskin-Anzug voller Mottenlöcher, der mir am Körper zu Staub zerfiel … und ein Besuch in der LBJ Library von Austin, TX, wo ich in den vergilbten Lettern alter Zeitungsausgaben vom 23. November 1963 versank. 

Eines Tages war es endlich soweit – ich atmete die stickige Luft von Downtown Dallas, Texas. Mich streifte ein schwüler Windhauch an der Dealey Plaza und siehe da: Die Geister waren nach wie vor lebendig … und ich für den Rest meiner Tage auf dem Trip. 

Drei weitere Werke sind zu wuppen. Ausgerechnet ein Kammerstück namens Nicht der Rede wert, ein Bastard von einem verdammten Roman, der sich in keinster Weise zu benehmen weiß, wollte zuerst vollendet werden. (Clever war ich noch nie, sonst hätten Sie längst von mir gehört.)

Andererseits, hat NDRW Ihnen immerhin die Wahrheit über den Kennedymord zu bieten … und lädt in Form eines Serviervorschlags dazu ein, anstatt darüber zu streiten, ob sich Geschichte nun wiederholt oder nicht, darüber nachzudenken, was uns mit den Menschen früherer Generationen verbindet. Nach dem was ich höre, ganz oben auf der Liste: Der Wunsch nach Stabilität, um ungestört gewissen Grundbedürfnissen nachzugehen. Siehe auch: Eine unfassbare Wurstigkeit, was das Schicksal anderer Menschen angeht, solange man ihr Elend nicht sehen, riechen oder schmecken muss. Außerdem treibt uns – Pardon, ein Großteil der mir bekannten Menschen – ein geradezu überbordender Drang an, dazuzugehören. 

Irgendwo. Egal wo. 

Was nur funktioniert, wenn klar ist, wer nicht dazugehört.

Ich, zum Beispiel. 

Also entweder hat der Meyser ‘ne Vollmeise, oder irgendwann steht sie an, die Trendumkehr. 

Joe Meyser,  am 03. 10. 2023

Blanes, Katalonien