Joe Meyser - Introduction

Introduction

Wenn man also nicht gerade im Gefängnis saß, beschränkten sich die Freiheits-, ich meine,  Freizeitaktivitäten im Arbeiter- und Bauernstaat auf Sport und Disco. Sportiv war ich noch nie, aber in der Disse traf ich auf die faszinierendsten Wesen des Planeten: 

Die LADIES. 

 

Diese geheimnisvolle Grazien standen auf US-amerikanische POP-Musik und belegten – fakultativ – den Englischkurs. Lange vor dem sehnlichst erhofften Zuschlag zum einvernehmlichen POPPEN, wisperten sie mir Textfetzen aus ihren Lieblingssongs hinter die vor Aufregung knallroten Löffel und träumten sich selbst hinfort aus Enge und provinziellem Dresden-Mief. Und weil es nun mal die Frauen sind, welche die Boys zu Männern machen, begann auch ich, von den “Vereinigten Staaten von Amerika” zu träumen. 

 

So einig konnte man sich dort drüben nicht sein, staunte ich, wenn man es für nötig befunden hatte, den “Ich-bin-ein-Berliner”-Präsidenten John F. Kennedy, dessen Bruder Bobby und, mal eben zwischendurch, Martin Luther King zu ermorden. Aber damals hatte ich auch noch keine Ahnung vom Prozess der Vereinigung von Staaten und was da so alles hochkochen kann.

 

Wer älter wird, hat die Wahl zwischen stumpf oder sentimental. In meinem Fall bedeutet das: Heutzutage will ich verstanden werden, damals wollte ich verstehen. Wissen, wie der Hase läuft, im Vorbeigehen ein paar Mysterien enträtseln. Also warum nicht gleich eines der Größten, den Kennedy-Mord? Wenn es mir gelänge, diesen einen Fall in all seinen Facetten zu durchdringen, würde ich dann nicht auch die Lügen in den Geschichten Anderer quasi sehen können? 

 

Zur Erklärung: In zwei grundverschiedenen Gesellschaftssystemen aufzuwachsen, in meinem Fall, vom Ost-Ossi zum West-Ossi zu werden, bedeutet im Kern: Ein Leben lang, sich fundamental widersprechende, absolute Wahrheiten aufs Auge gedrückt zu bekommen. Manche Leute verlieren da die moralische Orientierung oder machen auf Fundamentalopposition – andere suchen sich ein Steckenpferd.

 

Ich las alles über den 22. November 1963. Verschlang Don DeLillo’s Sieben Sekunden – wieder und wieder, bis sieben Jahre daraus wurden. Stritt mich in Gedanken mit Stephen King über die These vom Einzeltäter und wurde ein glühender Verehrer von Jim Garrisons Zivilcourage. Norman Mailers Tatsachenbericht über Oswald sowie sein “Epos der geheimen Mächte” gerieten zur Enttäuschung, das beigefügte Quellenverzeichnis setzte meine Welt in Brand. James Ellroy und Oliver Stone warfen frisches Holz ins Feuer.  JFK – Staatsstreich in Amerika, ein phantastisch recherchiertes Sachbuch des deutschen Journalisten Mathias Bröckers, machte den Kennedy-Case dann endgültig zum Herzensthema. 

 

In der Zwischenzeit katapultierte es mich gelegentlich zurück ‘auf Start’ und ich landete bei einem gewissen Lee Oswald. ‘Wie hatten diese ausgefuchsten Schreiberlinge das nur hingekriegt?’, fragte ich mich und ließ die berüchtigte sächsische Kinnpartie nach vorne schnellen. Oder lag ich vollkommen daneben, und es handelte sich lediglich um die mir innewohnende Sehnsucht nach einfachen Antworten? 

 

Denn verstehen zu wollen allein reicht(e) nicht. Umso öfter ich Angelesenes wiederkäute, desto weniger hatte ich das Gefühl, näher an die Essenz des grausigen Geschehens zu kommen. Zähneknirschend rang ich mich dazu durch, mir meine universelle Uninformiertheit einzugestehen. 

 

Von da an spielte ich in meiner eigenen Liga und stellte eine Art Punktegleichstand her: Ich würde nicht irgendwelchen Scheiß (nach)erzählen, ich würde meinen wilden Scheiß erzählen. Das Schreiben – nur vergleichbar mit einem bisher unentdeckten Raum im eigenen Haus – wurde zum geistigen Refugium; Zeitreisen und imaginäre Stippvisiten “nach USA” inklusive. 

 

Vor dem Display reizte mich zunächst der klassische Ellroy-Move: Zu ergründen, wie und warum es bösen Menschen immer wieder aufs Neue gelingt, der Welt ihren Stempel aufzudrücken. Auch war es mir ein Heidenspaß, die unendlich vielen Theorien in Bezug auf den Kennedy-Mord quasi übereinander zu legen. Eine stattliche Anzahl “Rorschach-Tests” – wie Mathias Bröckers in diesem Zusammenhang schreibt – und in der Mitte ploppen in dicken Lettern die Namen und Grabstein-Inschriften von Tätern und Auftraggebern auf? 

Non, madame et messieurs!

 

Viel spannender war und ist die Frage, wie es die sagenumwobene, oft angeblich bis ins kleinste durch-validierte historische Wahrheit (auf ihrem Weg über den wissenschaftlichen Diskurs sowie den politischen DISS-Kurs) bis ins Internet schafft, dort zu etwas Schwammigem namens Allgemeinwissen zerläuft – nur um dann nicht selten im Weg herumzustehen, wie ein Klotz aus Beton. 

 

Ein Beispiel: Selbst die hartnäckigsten, unbequemsten ihrer Zunft, die Investigativjournalisten, leben letztlich von ihren Informanten – siehe Watergate. Vielleicht gilt das umgekehrt aber ganz genauso? Wenn ja, mit welchem Ziel kommt dann eine angebliche Exklusiv-Info, sprich, ein sogenannter Limited Hangout, bei uns wissbegierigen Schäfchen an?

 

So um die Jahrtausendwende herum, als ich gerade begann, unser gift- und gallisches DD-Dörfchen als Teil der Bundesrepublik anzusehen, gings auch im wahren Leben über den großen Teich – sturzbetrunken in ‘ner 747 von Lufthansa, on my way to JFK. Auf der sich anschließenden Tour als Bassist von Chris Whitley, durch dieses weite Land voller wundervoller Menschen und degenerierter Vollidioten, stellten die Shows, so unvergesslich sie mir heute erscheinen, lediglich die Pflicht dar. 

 

Die Musik spielte jenseits der Bühne. Dort lief der Soundtrack meines Lebens: Der Geruch von Amerika … touché, von Strawberry-Duftkerzen, die Neonlichter eines plüschigen Nachtclubs mit Blick auf die Skyline von Chicago, ein Original-Sixties-Sharkskin-Suit voller Mottenlöcher, der mir am Körper zu Staub zerfiel …und ein Besuch in der LBJ Library von Austin, Texas, wo ich in den vergilbten Lettern alter Zeitungsausgaben vom 23. November 1963 versank. 

 

Eines Tages war es endlich soweit – ich atmete die stickige Luft von Downtown, Dallas. Mich streifte ein schwüler Windhauch an der Dealey Plaza, an exakt jenem Ort, an welchem John F. Kennedy von hinten und von vorn der Kopf weggeschossen wurde. Was auf dem Film von Abe Zapruder deutlich zu sehen ist … Mr. Oswalds Ego jedoch selbst post mortem nicht kümmern muss, schließlich steht der gute Lee als Einzeltäter in jedem Geschichtsbuch.

 

Nachtrag: Drei weitere Werke sind in Arbeit. Ausgerechnet Nummer Vier – ein Bastard von einem verdammten Roman, namens Nicht der Rede wert – wollte zuerst vollendet werden. Andererseits …hat NDRW Ihnen immerhin “die Wahrheit über den Kennedymord” zu bieten und lädt in Form eines Serviervorschlags dazu ein – anstatt darüber zu streiten, ob sich Geschichte nun wiederholt oder nicht – darüber nachzudenken, was uns mit den Menschen früherer Generationen verbindet. 

 

Der Westen als solches mag seine Unschuld lange eingebüßt haben, von Ehre und Stolz verstehe ich nichts, aber der schlichte Fortbestand dessen, was einst für nachfolgende Generationen erkämpft wurde, auch von Männern wie Jack Kennedy, hängt entscheidend davon ab, ob wir es den Totengräbern der Demokratie gestatten, unser aller Geschichte als etwas darzustellen, in der Gerechtigkeit keine Rolle spielt. 

Joe Meyser,

Blanes, Sommer 2025