Kapitel 2

Marcy stürmte voraus, als sei ein Rudel wild gewordener Chickasaw hinter ihr her. Dabei hatte Ruth nun wirklich kein Indianerblut in sich. Zwar hätte niemand in Frage stellen können, dass sie im Begriff war, sich ebenfalls in Bewegung zu setzen. Schließlich war es ihre Idee gewesen, die aufgebrachte Wallachin zu sich in die Küche zu komplementieren. Andererseits war sie peinlichst darauf bedacht ihre Schritte soweit wie möglich zu verlangsamen, ohne stehenzubleiben. Zwischen zwei aufeinanderfolgenden Konfliktsituationen beanspruchte sie neuerdings einen Moment für sich, um durchzuatmen.
Ruth musterte die Flügeltür zwischen Küche und Kaminzimmer, als sähe sie sie zum ersten Mal. Rons Ansage am Tage des Einbaus war unmissverständlich gewesen: “Du bist die Frau. Freier Zugang zur Küche ist dein Grundrecht.”
Hehe!
Aber … es sei am besten, wenn sie nur den rechten Flügel benutzen würde. Der habe auf beiden Seiten einen Türknauf. Während des Öffnens und Schließens solle sie diesen fest in der Hand behalten, um unkontrollierte Schwingungen zu vermeiden, wie er es ausdrückte. Und so kam es, dass dieses cremefarbene, im Verhältnis zu den Ausmaßen ihrer Küche grotesk überdimensionierte Ungetüm noch nie die Chance bekommen hatte, etwas anderes zu sein als eine ganz normale Tür.
Alles in diesem Haus, sie selbst eingeschlossen, gehörte, zumindest nach dessen Selbstverständnis, ihrem Mann. Und der behielt nun mal gern die Kontrolle.
Bitteschön.
Ihrer Meinung nach bestand das Geheimnis einer reibungslosen Ehe in einem simplen Deal: Daddy-O behielt die Fäuste unten und die Lady wählte mit Bedacht, wann und wie oft sie sich zänkisch gab. Mit Blick auf die stattliche Anzahl ihrer – größtenteils bereits mehrfach geschiedenen – Freundinnen, stellte Ruth sich ein recht gutes Zeugnis aus. Ihr war es nie sonderlich schwer gefallen die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Daher zerbrach sie sich auch nicht den Kopf über Ron’s spezifische Vorstellungen, wie diese Dinge zu sein hatten. Ihre von Natur aus unbekümmerte Art ermöglichte es ihr, ihrem Mann nach wie vor Liebe und Zuwendung entgegenzubringen, anstatt ihn zu verabscheuen, so wie es sich eigentlich gehört hätte, nach all den Jahren.

Hier Cut

‘Wie gut kann man einen anderen Menschen kennen?’, fragte sie sich. Hätte sie tatsächlich alles über Ronnie wissen wollen? Sie waren schließlich kein Paar geworden, um der Müllschlucker des jeweils anderen zu sein. Die verschiedenen Lebensbereiche, sowie gewisse Überschneidungen, waren lange geregelt zwischen ihnen. Einige wenige Auseinandersetzungen hatte es wohl gegeben, größtenteils um Marginalien, die sich zumeist noch vor dem Zubettgehen in das auflösten, was sie waren – heiße Luft. Wann immer sie später darüber nachdachte, warum ein diffuser Groll an ihr nagte, vermochte sie sich, wenn überhaupt, nur vage an den Anlass dafür erinnern.
Gut so. Ein allzu gutes Erinnerungsvermögen musste im Verlauf der Jahre zwangsläufig zur Last für einen selbst und andere werden. Manchmal, wenn sie sich vernachlässigt oder bedrängt fühlte, oder ihr in einem von beiden Zuständen der jeweils andere widerfuhr, war ihr urplötzlich dennoch nach Krieg zumute. Dann war sie sich absolut sicher, dass da etwas gewesen sein musste …, etwas Schreckliches, etwas, von dem viele andere Frauen ebenso zu berichten wussten. Etwas, was sie mit all diesen Menschen verband!
Aber das hielt nie sonderlich lange an. Du spinnst, du projizierst, du bist einfach nur hysterisch!
Ein unausgesprochener Verweis auf den Phantomschmerz ihrer nicht mehr existierenden Periode. Dabei hatte es in dieser Hinsicht nie Probleme gegeben. Jahrzehntelang nach außen hin die entspannte Frau-Frau.
Was für ein albernes Paradox: Ausgerechnet nachdem sich das Thema naturgemäß von selbst erledigt hatte – war das totale Chaos ausgebrochen! Ein Rudel Götter in Weiß, mit rabenschwarzen Wahrheiten im Gepäck. Im Moment, in dem sie die Diagnose verkünden, beginnt etwas Neues. Wie wenn man den Grundriss eines wunderschönen Hauses zu sehen bekommt und vollkommen aus dem “Häuschen” gerät. Selbst wenn man es sich niemals wird leisten können, dort einzuziehen …
Apropos Zukunftsaussichten: In Punkto Zusammenhalt, überschätzten die meisten ihrer Freundinnen die Macht der Worte ebenso sehr, wie sie die beständig gegen sie arbeitende Halbwertzeit der Anziehungskraft ihres Schoßes zu unterschätzen beliebten. Wenn es galt, mit einem Mann ein paar Runden mehr im Leben zu drehen, als ein heißer Sommer samt Trip nach Honolulu hergab, taugten die üblichen Spielchen allenfalls dazu, ein Tollhaus zu errichten. Ein Tollhaus, bestehend aus Selbstzerfleischungs- und Beleidigungsorgien.

‘Von wegen Horse-shit. Chicken-shit!’, schmunzelte sie. Weiber, die durch nichts zufrieden zu stellen waren, stellten die absolute Höchststrafe dar. Andererseits … eine Welt voller Mistkerle hatte es wohl nicht anders verdient.
Eine erfüllte Ehe stehe auf dem Fundament des Ungesagten, hatte Grandma ihr einst mit auf den Weg gegeben. Das Gegenteil sei richtig, hatte sie damals gedacht und sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass Dad einmal mehr als nur ein, zwei im Vorbeigehen flüchtig dahingesagte Worte für sie erübrigen würde. Bis zu jenem Tag, an dem Mom mit Nancy auf Sightseeing-Tour in Acapulco weilte … und er spät abends auf ihrer Bettkante saß. Wo in seiner schwammigen Iris zu lesen stand, dass er sehr wohl etwas für sie übrighatte.
Als er in jener Nacht endlich gegangen war, hatte sie sich zum ersten Mal nicht gewünscht, er wäre geblieben. Der Kelch war nur knapp an ihr vorübergegangen, das wusste sie. Sie hatte sich unendlich erleichtert und gleichzeitig betrogen gefühlt. Begehrt, beschmutzt, sitzengelassen. Als habe er es tatsächlich getan. Er hatte kein Recht gehabt, sie so anzusehen!
Sie begann ihren Vater zu hassen und verliebte sich unsterblich in ihn. In ihren Tagträumen begann sie ihm nachzustellen und genoss seine zunehmende Erschöpfung, ihre nahezu teuflische Macht über ihn. Den Jahrestag dieser alles verändernden Begegnung, hatte er nicht mehr erlebt. Sie schon: Die Hassliebe zum Vater, war in einer ambivalenten, – und was das Sexuelle anging – teilweise obsessiven Liebe zu ihrem Ehemann aufgegangen.
Beide Männer waren grundverschieden und dennoch ähnelten sie einander, überlegte sie: Die Tatsache, dass sie bedeutend älter waren. Die seltsame Eigenart, den Leuten die Hand zu geben, nur um sie anschließend zu maßregeln. Zwei Männer wie aus einer längst vergangenen Zeit. Zwei Männer, welche sich darauf verstanden, die Jagd so zu arrangieren, dass das Wild, anstatt zu fliehen, dem sicheren Tod entgegen rannte – jubelnd und jauchzend vor Glück.
Mit der Zeit war ihr bewusst geworden, dass sie Grandma’s Worte bezüglich der Ehe, tagtäglich mit Leben erfüllte. In einer Ehe kam es auf die im Stillen getroffenen, die unbewussten Entscheidungen an. Gemeinsame Interessen und Vorlieben. Ein unter der Brust sitzendes, niemals ausgesprochenes Trotz alledem! Im Verbund mit einem an Schlichtheit nicht zu übertreffenden: “Gut, dass du da bist.”
Gab es überhaupt etwas, was sie als echtes Ärgernis bezeichnen würde? Abgesehen davon, dass sie ihn lieber zwischen ihren Beinen, als im Mund empfing?
Yes, Sir.
Ron spielte ausschließlich und immerzu sein eigenes Spiel. Er, er, und nochmals er. Ohne Rücksicht auf Verluste. Tu was ich sage, oder lebe mit den Konsequenzen, Mrs. Mag.
Unabhängig davon, ob etwaiges Fehlverhalten als vorsätzlich einzustufen, oder lediglich auf Gedankenlosigkeit zurückzuführen war – Ronnie ließ den unglücklichen Missetäter spüren, dass er, nun ja, dass er enttäuscht war. Was weit harmloser klang, als es sich anfühlte. Nicht, dass er ihr gegenüber nicht nett und liebenswürdig auftrat. Selbst Thee, ihrem geliebten, naseweisen Sonnenschein, blieb nichts anderes übrig als anzuerkennen – Ron schlug seine Mädels nicht! Er verlor niemals die Fassung und ließ mit keiner Miene je erkennen, dass er überhaupt verletzbar war.
Und dennoch: Nichts auf der Welt vermochte Ron umzustimmen, wenn man in seinen Augen schuldig war. Ihren unzähligen Umgarnungsversuchen blieb dann nichts anderes übrig, als sich in den Schweiß unter ihren Achselhöhlen zurückzuziehen. Als setze er einen sanft auf einer schrägen Glasfläche ab und sähe seelenruhig zu, wie man gnadenlos in die Tiefe glitt. Ich habe auf dich gezählt. Und was machst du?
Seine, in aggressiven Grau- und Grüntönen gehaltene Iris schlug Fanghaken in die Wangen seines jeweiligen Gegenübers, bis die betreffende Person von Kopf bis Fuß vor Scham zu glühen anfing. Thee hatte den dazu passenden Ausspruch geprägt: Daddy-O – Erschießungskommand-OH!
In größeren Runden endete dann jeder seiner vernichtend knappen, salvenartigen Monologe mit einem ebenso knappen, wie vor Herablassung triefenden –
Ja.
Im Tone eines ultimativen Neins.
Chiffre für: Ihr kapiert es einfach nicht.
Wenn er so war, regte sich sehr wohl Unwillen in ihr. Sie war dann versucht sich vorzustellen, ihn und ihr gesamtes Leben in einem neuen Licht zu betrachten. Aber das würde zu nichts führen. Denn dafür würde sie Zeit brauchen. Zeit, die sie nicht mehr hatte. Schließlich ist er doch nicht nur so! Mein Ron hat unendlich viele Seiten! Gott, er kann so witzig und so …, so wild sein! Hemdsärmelig wie Bob, aber nicht annähernd so würdelos! Außerdem belässt er Delikates grundsätzlich innerhalb heimischer Gefilde und blamierte einen nicht in der Öffentlichkeit!
Und so war sie stets erleichtert, als er keine fünf Minuten nach der krassesten Erniedrigung einen liebenswürdigen Spruch hinterherschob, welcher den Themenwechsel einleitete. Ihre tolle Frisur, das hübsche Kleid, ihre wunderschönen Schuhe! Selbst wenn sie besagtes Exemplar bereits seit über einem Monat jeden zweiten Tag ergebnislos zur Schau getragen hatte …
In ihren Augen verfügte Ron nun mal über das gewisse Etwas! Wie Joe DiMaggio – auch wenn er vielleicht nicht ganz so gut aussah. Schlimm genug, dass sich ihre eigene Tochter beständig darüber aufregte, dass ihre Mutter ihren eigenen Ehemann – den ihr mehr oder minder verhassten Vater – nach all den Jahren noch sexy fand. Als sei sie pervers oder so! Als ob man ab einem bestimmten Alter keinen Sex mehr haben oder gar verliebt sein dürfte, ohne sich selbst und andere – womit Thee offenbar an allererster Stelle sich selbst meinte – regelrecht vorzuführen! In zwanzig Jahren würde die hübsche Miss Magruder anders darüber denken. Egal. Sie selbst wäre dann bereits zwanzig Jahre tot.
Thee entglitt ihr von Tag zu Tag mehr. Nur ein Idiot würde sich einbilden, den Lauf der Dinge aufhalten zu können. Dabei wusste das Madame-chen rein gar nichts von dem Irrsinn, den sie momentan durchmachte! Thee genügte es zu wissen, dass sie jung war. Per se war dagegen nichts einzuwenden. Dies jedoch als Privileg anzusehen, in der Gegend herumzustiefeln und zu verkünden, wie sehr man die Menschen verachtete, die einen großgezogen hatten, war nach ihrer Meinung dennoch einer kritischen Betrachtung wert.
Aber Thee wusste so oder so alles besser, und wenn nicht, “dann sei heutzutage sowieso alles anders, aber das könne SIE nicht verstehen, so reaktionär und rückwärtsgewandt, wie sie sich gebärde!” Es fehlte eigentlich nur noch, dass Thee’s Rehaugen sich treuherzig danach erkundigten, warum Ron und sie überhaupt noch atmeten, wo sie doch augenscheinlich nur mehr dahinvegetierten, als seien sie längst tot, wie sie des Öfteren anmerkte.
Um “etwaigen Fliehkräften” Einhalt zu gebieten – sowie nicht augenblicklich dieser angestochenen Wallach-Lady in die Arme zu fallen – glitt Ruth nahezu lautlos durch besagte Schwingtür. Den Türknauf des linken Flügels fest in der Hand, blinzelte sie zurück durch den Milchglaseinsatz und erhaschte einen Blick auf ihren schmunzelnden Ehemann, wie dieser etwas zu Bob sagte und sich anschickte, den Raum zu verlassen. Sie versuchte sich zu sammeln, während sie Bobs Hinterkopf keinen Moment aus den Augen ließ.

‘Wie er da so sitzt, in sich zusammengesunken, ohne jede Spannkraft, wirkt er wie ein gebrochener, alter Mann im Sanatorium’, dachte sie ohne jedes Mitgefühl. Wenn die Männer älter wurden, verschwand dieses so spitzbübisch Jungenhafte, das, wofür man noch den miesesten Dreckskerl lieben konnte. Entweder erinnerten diese alten Knochen an vor langer Zeit gefällte Baumstämme, oder sie benahmen sich so hilflos wie ein sechs Monate altes Baby. Ron? Nein, bei Ron und ihr war das etwas anderes. Sie beide hielten zusammen, trotz der Situation momentan.
Von der er bisher keinen Schimmer hatte.
Alles in allem verhielten sie sich immerhin wie erwachsene Menschen, beruhigte sie sich, als würden nur Zwölfjährige vor dem Scheidungsrichter landen. Hatte sie über all das nachgedacht, weil Bob und Marcy’s Ehe momentan implodierte? Gut möglich. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? War Ron ein guter Mann? Sie vermochte es nicht sagen. Sie wusste nur, dass er ihr Mann war. Der Mann ihres Lebens. Das reichte. Bisher zumindest …
Neuerdings fragte sie sich manchmal, ob Thee nicht vielleicht Recht damit habe, dass sie nicht ganz richtig sei im Kopf, weil sie Rons Unberechenbarkeit nach wie vor anziehend fand. Und wenn schon, es war nun mal so! So wie es auch den Tatsachen entsprach, dass sie es immer geliebt hatte, nun ja …, einfach sie selbst zu sein. In einem Leben, was ihr, oberflächig betrachtet, voll und ganz zusagte.
Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute tat sie so, als ob sich daran nichts geändert habe. Tapfer betete sie ihre alten Gedanken und Meinungen daher, nur um zu erleben, dass in deren Fahrwasser fremde, absolut verwirrende Betrachtungsweisen nachrückten. Konnte auch ein gutes Leben, ein letztendlich Verschenktes sein?

‘Woher kommt die fixe Idee, die Dinge kurz vor dem Ende krampfhaft von der anderen Seite betrachten zu wollen?’, dachte sie und sah sich tausend Meilen entfernt im dreißigsten Stockwerk eines gigantischen Wolkenkratzers am Fenster stehen. Woher sollte ein Mensch überhaupt wissen, wer oder was er in Wahrheit war? Entschieden das nicht Andere? Es war schlicht nicht zu greifen; als müsse man noch einmal die Schulbank drücken, um zu verstehen, worüber man als Erwachsener anfing nachzudenken. Und das konnte buchstäblich alles und jedes sein.
Bis hin zum inneren Wesen dieser bescheuerten Flügeltür.
Es war erstaunlich: Wenn man den beiden Schwingtüren einen Stoß versetzte, wie Marcy soeben, dann holten diese weit aus und pendelten eine bemerkenswert lange Zeit hin und her. Plötzlich fiel ihr ein, wo sie das schon einmal gesehen hatte. Natürlich! Die zwischen Küche und Gastraum hin und her fliegenden Kellner bei Luger’s, zur Lunchtime. Offenbar hatte Ron lediglich sichergehen wollen, dass das verdammte Ding nicht unkontrolliert ausschlug und die TV-Anlage beschädigte, welche direkt um die Ecke stand. Egal. Hin und her, hin und her – und immer noch Schwung dahinter! Wie eine Frau, die eine gewisse Zeit benötigte um sich zu beruhigen, sobald sie erst einmal entsprechend in Rage geraten war …
Wie hatte Ron vor einigen Jahren in geselliger Runde geraunt? Auf geheimnisvolle Weise hätten die Frauen irgendwann einen Weg gefunden, den Winkel der Erdkrümmung zur Sonne hin ein klein wenig zu verändern, woraufhin die Uhren weltweit ein Stückchen schneller liefen. In Wahrheit dauerten die Tage also sehr viel länger an, als allgemein angenommen. Andernfalls sei es selbst der geschätzten Damenwelt schlicht und einfach unmöglich, über 33 unterschiedliche Dinge gleichzeitig nachzudenken, sowie, im Wissen darum, dass das Leben unterdessen erbarmungslos weiterlief, auf allerlei realen Ebenen noch Mannigfaltiges nebenher abzuarbeiten. Der Clou – seit der Kreuzigung Christi seien somit nicht runde 2000, sondern, nahezu unbemerkt, bereits an die 4000 Jahre verstrichen! Die Tischrunde hatte sich köstlich über dieses, ihrer Meinung nach, durchaus ein Körnchen Wahrheit enthaltendes Bonmot amüsiert, bis Doro – die Blunts waren damals noch recht oft zum Dinner da gewesen – bis Dorothy spitz angemerkt hatte, die Welt sei augenscheinlich ganz gut damit gefahren, außerdem sei knapp die Hälfte der Weltbevölkerung weiblich. Der andere Teil, derjenige, welcher die Kriege vom Zaune breche, täte sich offensichtlich verdammt schwer damit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Herren der Schöpfung könnten für einen kleinen Zeitzuschlag also durchaus dankbar sein. Und sei es, um sich wenigstens ein bisschen weiterzuentwickeln! Ron hatte sich nicht geschlagen gegeben und erwidert, dass, wenn das stimme, und wenn es ebenfalls stimmen sollte, dass die Damen neuerdings vermehrt anfingen, den Männern auf nahezu allen Gebieten Konkurrenz zu machen – würde das Tempo für die gesamte Menschheit dann nicht erbarmungslos anziehen? Ob man das denn wirklich wollen könne?
Ein Lacher damals, im Moment ein Gedanke, der Ruth endgültig in die Realität zurückholte –
Marcy.
Die ihr eigenes Modelabel aufgebaut und zum Erfolg geführt hatte. Was für die damalige Zeit äußerst ungewöhnlich gewesen war. Ach was, dito heutzutage! Aber diese Hippiemädels zogen es ja bekanntlich vor, vorzeitig von der Uni abzugehen und sich in Kalifornien von Kriegsdienstverweigerern schwängern zu lassen. Zumindest, wenn man Rons Worten Glauben schenken mochte …
Die überwiegende Mehrheit in ihrem Freundeskreis sah Marcy’s berufliches Engagement als deplatziert an, so als hätten arbeitende Frauen etwas Schmutziges an sich. Sie selbst hatte gemischte Gefühle gehabt. Zum einen bewunderte sie Marcy und fühlte sich beschämt und ja, in gewisser Weise abgehängt, auf der anderen Seite tendierte sie dazu, ihr zu unterstellen, sie täte all dies nur um zu beweisen, dass sie etwas Besseres sei, als alle anderen. Und nun? Würde Marcy Bob tatsächlich verlassen? Sich erneut gehen lassen, ohne Rücksicht auf Verluste, die Familie und … und überhaupt! Oder war sie drauf und dran, etwas wahrhaft Mutiges zu tun? Sie wusste es nicht. Sie wusste es wirklich nicht.
Manchmal war Marcy ihr einfach unheimlich.
Marcy, die Unheimliche, hatte sich in den letzten Minuten ruhelos herumtigernd an Spüle, Kühlschrank, sowie allen anderen zur Verfügung stehenden Flächen die Flanken gerieben. Quecksilbrig wie sie veranlagt war, hielt sie keine ihrer Posen länger als drei Sekunden aus. Zwei von vier der komplett identischen, mit beigefarbenem Veloursleder überzogenen Küchenstühle hatten davon profitiert und für die Zeit, welche es brauchte um Oh! und Ah! zu raunen, Bekanntschaft mit ihrem nervös hin und her rutschenden Gesäß gemacht. Im Stillen waren sich acht Stuhlbeine – phallisch grinsend – absolut einig gewesen: Für ihr Alter ein Wahnsinnsarsch!
In der letzten Einstellung dieser Szene ballte Marcy die Fäuste auf dem Küchentisch, so als müsse sie, da kein Mann in der Nähe war, eben eine schnöde Resopal-Platte in die Knie zwingen. Im Moment würde einzig und allein helfen, etwas mit ihren Händen zu tun, gottverdammt!

‘Eine Gnade fortgeschrittenen Alters: Wer seit Jahrzehnten mit sich selbst leben muss, der kennt sich aus’, dachte Marcy und betrachtete Ruthie’s Rückenpartie, welche an der Tür zur Salzsäule erstarrt war. Die Dame des Hauses schien ein wenig indisponiert, bitteschön. Also machte sie sich wie ein Roboter über den Abwasch her, suchte besessen nach einem Aschenbecher, fand keinen, steckte sich trotzdem eine Kippe zwischen die Lippen und drehte fast durch, weil sie ihr Feuerzeug anscheinend auf dem Clubtisch hatte liegen lassen! Im Kaminzimmer, dem einzigen Raum in diesem Braunbär-Haus, in dem das Rauchen von Ruthie’s Gnaden noch erlaubt war, goddammit! Schlussendlich begann sie allen Ernstes, auf dem Filter ihrer Lucky Strike herumzukauen – als wolle sie die Dinger wenigstens fressen, wenn sie sie schon nicht rauchen konnte.

Oh, du Gierige! Scheint offensichtlich in der Familie zu liegen. So wie die Lust auf Pussies.
Ach leck mich doch!

Da es Marcy nicht gegeben war, etwas zu tun, zu fühlen oder zu reflektieren, ohne gleichzeitig auch noch etwas anderes ins Auge zu fassen – versuchte sie, sich grotesk verrenkend, der ihr abgewandten Ruth Löcher in den Nacken zu starren. Wie hübsch. Gefällt den Kerlen sicher, da drauf zu sabbern, während sie (…)
Gerade begann sie sich zu fragen, was eigentlich los war, mit Mrs. Mag, als diese plötzlich herum wirbelte – augenscheinlich bemüht, wieder ganz jene Ruth zu mimen, die von Allen gemocht wurde, wie einfältig sie sich auch immer gebärden mochte.
“Komm, Liebes. Setz dich, entspann dich”, spöttelte Ruth, alles andere als einfältig, und zauberte aus der untersten Schublade ihrer Küchenanrichte einen schwarzen, runden Plastik-Aschenbecher hervor: “Ehe du noch an deinem Glimmstängel erstickst, gelten heute Abend in meiner Küche gewisse Sonderregeln!”
Marcy machte keinerlei Anstalten sich zu setzen. Anstatt sich zu bedanken, murmelte sie so etwas wie: Obgleich ihr Leben die Hölle sei, habe sie momentan keinerlei glühende Brocken zur Hand … Betont langsam einen Halbkreis um die vor Wut bebende Blondine ziehend, zauberte Ruth von irgendwoher eine Packung Streichhölzer herbei. Oh, Lord, bitte gib mir Kraft, mich zu wappnen! Anstatt Marcy Feuer zu geben, sah sie sich selbst entgeistert dabei zu, wie sie begann, mit einer Hand sanft den Nacken der Anderen zu massieren, während sie wie ferngesteuert fortfuhr: “Nun setz dich doch endlich, Darling! Ich mach dir einen Drink, ja?“
Bei Dreharbeiten für den neuesten John-Huston-Film würde folgende Szene, ob der ihr innewohnenden bedrohlichen Spannung, ein enthusiastisches Bravo des Regisseurs zur Folge gehabt haben, in der Realität entpuppte sich Ruthie’s Geste als hundertprozentige Fehleinschätzung. Besser gesagt, als Griff ins Klo: Marcy, unter der Berührung zusammengezuckt wie eine überraschte Igelfrau, musterte ihr Gegenüber mit einem Blick, als rotiere in ihrem Inneren ein scharfgemachter Atomsprengkopf. Sie gönnte sich den Bruchteil einer Sekunde innezuhalten, um den ersten Schuss auf lautlos zu stellen: ‘Ich will nicht mitleidig gestreichelt werden, als wär ich eine dämliche Hirschkuh vor der Schlachtung! Wenn hier jemand etwas abschlachtet, dann ich! Wenn es so weitergeht, am liebsten euch alle!’
Den Volumenregler in ihrem Kopf zu betätigen, war noch die leichteste Übung, weswegen sie nun verdammt gut zu hören war: “Ich will keinen beschissenen Drink! Ich will eine dicke Wumme! Wozu sonst sind all unsere prall gefüllten Waffenschränke da? Zur Abwehr von Eindringlingen, nicht wahr?! Ich, zum Beispiel, würde jetzt gern einem besonders ekligen Exemplar, meinem eigenen Ehemann, seine Männlichkeit samt Hinterkopf wegpusten!”
“Na sicher willst du das”, flötete Ruth. “Aber du willst auch einen Drink, glaub mir. Ohne Alkohol wäre Amerika ein viel zu rauer Platz zum Leben, wie mein Ron immer sagt.”
“Oh, Jesus, Darling! Verschone mich mit den Lebensweisheiten deines Göttergatten!”, erwiderte Marcy und nahm Ruth mit einer harschen Bewegung die Streichhölzer ab. Bei dem Versuch, zum Abschluss zu kommen, heulte sie tonlos auf – das erste Streichholz zerbrach klischeehaft, dass zweite filmreif. Der verdammte Regisseur musste ein misogyner Dreckskerl sein!

‘Vielleicht sollte ich dir ja irgendwann erzählen’, dachte sie mit vibrierender Halsschlagader, ’welch irdischen Gelüsten dein Ronnie frönt, wenn du mit deinem nervösen Magen mal wieder im Hospital liegst. Wie unglaublich scharf der darauf ist, seine Zunge überall, und ich meine, überall, in deine besten Freundinnen hinein zu treiben, als handele es sich um kriegerische Landnahme. Kein Wunder, dass die Ladies ihn hinter vorgehaltener Hand den Deutschen nennen, so wie der von diesen teutonischen Welteroberern schwärmt, sobald er den Mund aufmacht. Wahrscheinlich ist er insgeheim selbst ein waschechter Nazi! Wie auch immer, dir reinen Wein einzuschenken, kannst du vergessen. Genauso gut könnte ich dir eröffnen, dass du verloren und verraten bist! Weil du gar keine Freundinnen hast, die zu dir stehen! Nicht eine einzige, die dich nicht hintergehen würde! Nicht eine Einzige …! Weil das Leben schlichtweg zu langweilig ist! Weil dein Mann zustößt, als gäbe es kein Morgen mehr! Woraufhin einem alles, wonach man sich sehnt, Nähe und Zärtlichkeit und was man sich sonst noch so vorstellt, vollkommen egal wird! Weil Ron all seine nie gegebenen Versprechen wiedergutmacht, indem er es höllisch gut macht! Gott was bist du nur für ein dämliches, naives Huhn!’
“So sorry, Honey”, sagte Marcy stattdessen, nachdem es ihr endlich gelungen war, sich eine Zigarette anzuzünden und einen übertrieben tiefen Zug zu inhalieren, als müsse sie einen Joint in großer Runde teilen. “Ron ist heute nun wirklich nicht das Thema. Aber, wo er Recht hat, nicht wahr? Zu einem Glas jenes wunderbaren französischen Rotweins, den du uns zum Dinner kredenzt hast, würde ich tatsächlich nicht nein sagen. Und, da wir gerade bei diversen Lebensweisheiten sind, wie ich immer sage: Ein guter Schluck Rotwein ermöglicht einer Frau zweierlei. Er betäubt ihre verspannten Glieder – ohne dass sie sich genötigt sieht, von ihrer heiligen Wut abzulassen!”
“Sicher, sehr gern, meine Liebe. Ich meine, es ist noch genug Wein da. Nur …” Ruth starrte an die Decke und verdrehte die Augen. “Da gibt’s ein Problem: Ich hatte die Flaschen, damit sie warm, ich meine, damit sie zum Dinner die angemessene Temperatur bekommen, den Vormittag über auf der Veranda stehen. Leider habe ich sie nach dem Essen sofort wieder zurück in den Kühlschrank gestellt. Ich weiß nicht einmal, ob ich dieses franzö …, ich meine, ob ich den Rest dieses edlen Roten überhaupt an meinen Ronnie loswerde. Wenn, dann nur ordentlich heruntergekühlt!”
“Eisgekühlt? Diesen göttlichen Bordeaux? Und ich hatte euch schon um euren neuerdings so exquisiten Geschmack beneidet!”, brachte Marcy spöttisch lächelnd einen ihrer Fangschüsse an. Die dunklen Schatten unter den Augen ihres Gegenübers registrierend, setzte sie eiligst hinzu: “Nun bleib mal ruhig, ist doch nicht deine Schuld, Liebes. Manchmal frage ich mich allerdings ernsthaft, was unsere Männer da drüben im alten Europa überhaupt gelernt haben. Außer natürlich, was ein verdammter Blowjob von einer dahergelaufenen Pariser Hure ohne Stolz und Ehrgefühl kostet!”
Als hätte sie nicht ihre gesamte Umgebung, sondern sich selbst angegriffen, gab Marcy dem unbändigen Impuls nach, aufzuspringen. Woraufhin sie perplex realisierte, dass sie bereits kerzengerade dastand. Wohl hatte sie in der Zwischenzeit kurz Platz genommen, sich jedoch längst wieder erhoben gehabt. So wie sie sich überhaupt nur irgendwo niederließ, um anschließend wie eine wildgewordene Stute über die Koppel zu springen und in die Weiten der Prärie zu entfliehen! Zumindest solange, bis ihr auch das wieder langweilig wurde.
Auf ewig ruhelos.

‘In diesem Punkt ist Ruthie nicht viel anders, nur dass sie ihre eigenen vier Wände jeder Form von Freiheit vorzieht’, dachte Marcy. Wie von Invasoren aus dem Schlaf gerissen, musste sie sich zusammenreißen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wankend und unschlüssig auf dem Fleck tänzelnd stand sie da und fixierte die Zimmerdecke, als käme jeden Moment Sinatra persönlich auf die Bühne. Statt Frankie Boy war jedoch nichts als edle Seidentapete auszumachen; in cremefarbenem, mattem Beige gehalten – wie alles in diesem Haus, was nicht den Boden bedeckte.
Denn der war braun. Kackbraun. Überall.
“Meine Liebe …”, säuselte sie, bemüht den Faden wieder aufzunehmen, auch wenn sie jegliche Kommunikation im Moment als unsäglich empfand. Es war dies eine der erschreckenden Gewissheiten, zu denen man sich im Verlauf einer Ehe genötigt sah sie hinzunehmen wie irgendeinen Dreckskerl, nur weil der stärker war: Innerer Frieden, ja selbst das Streben danach, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, solange man an der Seite der falschen Leute durchs Leben ging. Wer sich stabilisieren wollte, musste weg von den Menschen und den Ärgernissen, welche diese zwangsläufig heraufbeschworen. Ansonsten würde man nie herausfinden, ob man nicht vielleicht sogar ganz in Ordnung war …

‘Worte’, dachte sie. Worte konnten keine Probleme lösen. Aber manchmal konnte man sie sich mit deren Hilfe zumindest kurzzeitig vom Leibe halten.
“Du siehst”, fuhr Marcy tapfer fort. Der Zustand, in welchem ihr das Lügen leicht von den Lippen ging, war eine Verfasstheit, welche sich gelegentlich lange bitten, sie letztlich jedoch niemals im Stich ließ: “Das wird heute nichts mit mir. Irgendwann reicht es jedem mal, nicht wahr? Ja, ich weiß, tu mir einen Gefallen und sag bitte einfach nichts! Und sieh mich nicht so an, Honey! Es tut mir leid, OK?”
Ruth hatte während Marcy’s Auslassungen genau registriert, wie die Andere sich mühte, nicht vollends aufzudrehen. Na sicher doch, Madame würde sich ihre Kräfte für die zu erwartende Kür des Abends aufsparen wollen.
War diese Situation nicht geradezu ein Paradebeispiel dafür, was einem blühte, wenn man versuchte, sich gesellschaftskonform zu verhalten?, überlegte sie. Dass einem durchgeknallte Wahnsinnige auf den Hals rückten? Subjekte, die man allen Ernstes auch noch als seine Freunde ansah! Was nichts anderes hieß, als das man im Grunde ebenfalls als verrückt zu bezeichnen war. Wie auch immer, letztendlich konnte kein Mensch mit Bestimmtheit sagen, was in den Köpfen anderer Leute vorging. Weswegen niemand auch nur die leiseste Ahnung hatte, was sie gerade durchmachte. Ja. Das hatten wir schon. Vielleicht solltest du damit zur Presse gehen? Am Ende kommst du noch groß raus damit: 10 Minuten Ruhm – und sei’s auch posthum!

‘Niemand interessiert sich für irgendwas’, dachte Ruth. Das war eine Tatsache. Sie selbst war da keine Ausnahme. Ronnie hatte vorhin vollkommen Recht gehabt: Im Großen und Ganzen war ihr das Wohl und Weh der Menschheit immer herzlich egal gewesen. Solange das eigene Leben in scheinbar normalen Bahnen verlief und die Szenerie halbwegs der von Gestern glich, existierte das Elend dieser Welt – Tod, Krieg und Krankheiten – nur im Politikteil der Tageszeitung. Und die flog jeden Abend größtenteils ungelesen in den Müll. Im TV wechselte sie das Programm, wenn der Moderator die Unverfrorenheit besaß, sie ungefragt mit fremden Schicksalen zu konfrontieren. Alles worauf sie zu reagieren und sich einzustellen bereit war, schien bereits von dem Moment an, da es geschah, zu einer Story von Gestern zu werden. Geschichte eben. Dinge passierten nun einmal … Wie hätte ausgerechnet sie daran etwas ändern können? Wie selbstverständlich hatte sie sich stets zu den Glücklichen gezählt, welche von all den schrecklichen Geschehnissen, die in dieser grauenvollen Welt geschahen, lediglich gehört hatten.
Sie selbst traf kaum je fremde Leute. Und selbst wenn doch, dann nur an der Peripherie; im Supermarkt, beim Friseur, zum Lunch, wahlweise Dinner, bei Luger’s in der Innenstadt. Wenn sie angesprochen wurde, hörte sie nur selten überhaupt zu. Stattdessen nickte sie freundlich und gebrauchte Worte wie Ach!; Na, sieh einer an!, oder, Na, das ist ja großartig! Das freut mich so für Sie! Bis sie sich in aller Form zu entschuldigen verstand, sie müsse los – die Tochter, der Tanzunterricht – Sie verstehen? Nichts, nichts auf der Welt hatte sich je besser angefühlt, als den Motor ihres Wagens zu starten und vom Parkplatz raus auf die Interstate und ihren vier Wänden entgegenzufliegen …
Anfang 1970 hatte der junge Gynäkologe, welcher die Praxis von Dr. Ellroy übernommen hatte, während einer Routineuntersuchung eine Zyste an ihrem rechten Eierstock entdeckt. Für sich genommen müsse dies nicht unbedingt ein Grund zur Sorge sein, andererseits habe er auch schon bessere Blutwerte gesehen. Eine operative Entfernung sei dringend geboten. Der junge Mann war mit charmantem Bitten in den Ring gestartet, als wolle er sie zu einer Sexualpraktik überreden, welche garantiert weniger weh tun würde als allgemein kolportiert – sie hingegen hatte es mit der Angst zu tun bekommen und sich jeglichen medizinischen Maßnahmen verweigert, bockig wie ein Teenager. Schlussendlich hatte es ein heftiges Hin und Her gegeben, dem Doc war der Schweiß ausgebrochen, während er, mit ihr und dem Telefonhörer kämpfend, der gesamten Belegschaft der Telefonzentrale der Frauenklinik mit sofortiger Entlassung drohte, nur weil die Verbindung zu irgendeinem Stationsarzt nicht zustande kam. Woraufhin er den Hörer aufgeknallt und ihr schlichtweg befohlen hatte, sich das Gewächs operativ entfernen zu lassen. Pronto! Seine Worte zum Abschied waren ihr im Gedächtnis haften geblieben; für zwei Menschen, welche sich zum ersten Mal begegnet waren, hatten sie nicht wirklich Sinn ergeben.
“Bei allem Respekt, Mrs. Magruder, eine derartige Renitenz steht einer schönen Frau wie Ihnen nicht gut zu Gesicht! Offenbar habe ich Sie falsch eingeschätzt. Eine Erfahrung, auf die ich in Zukunft gern verzichten würde. Also, erstens: Lernen Sie, sich wie eine Dame zu benehmen! Zweitens: Werden Sie gesund! Wenn es, was Gott verhüten möge, soweit kommen sollte, dass sie kämpfen müssen, dann tun Sie das gefälligst!”
Es hatte ein Weilchen gedauert, einen OP-Termin zu bekommen; eine Zeit, welche sie genutzt hatte, ihr privates Umfeld mit Falschinformationen, bezüglich eines, angeblich chronischen Magenleidens, zu füttern. Marcy hatte offenbar ganz ähnliche Probleme … Was wohl bei ihr dahinter steckte?
Im Hospital hatte sie mit zwei Frauen im Zimmer gelegen, welche zusammengenommen drei Söhne in Vietnam verloren hatten. Sie hatte gedacht: ‘Was geht mich das an? Ich habe keine Söhne. Nur eine respektlose Tochter!’
Das war einen Tag vor Kent State gewesen.
Auf dem TV-Bildschirm im Aufenthaltsraum war zunächst nur Rauch zu erkennen gewesen. Dann schwenkte die Kamera auf die in ihrem Blut liegenden Studenten und einen im Chaos versinkenden Campus. All dieser himmelschreiende Wahnsinn hätte sie in Tränen ausbrechen lassen müssen. Aber sie hatte keine Tränen gehabt. Außer für sich selbst. Auch der Sensenmann war sich wieder einmal selbst der Nächste gewesen, für ihn war ein üppiges Patt dabei herausgesprungen: Zwei Boys, zwei Girls.
What a surprise: Präsident Nixon hatte sein dämliches Grinsen durchgezogen, als habe ihm jemand den Trigeminus durchtrennt. Wann immer es darauf ankam, Größe zu zeigen, versagte die US-Regierung auf geradezu enervierende Weise, hatte sie gedacht, als sie wieder hatte denken können … In diesem endlos währenden Krieg, der Ölkrise, den Rassenunruhen. Ausgerechnet auf die Schwächsten der Schwachen, diese, wenn auch arg naiven Kids, hatten diese Mistkerle mit scharfer Munition schießen lassen. Gab es niemanden da draußen, der diesem Sumpf da oben in DC endlich die verrotteten Stellen rausschnitt? Möglichst großflächig – so wie bei ihr! Selbst wenn das in beiden Fällen nicht viel bringen würde, hatte sie geschäumt, erschrocken über die Radikalität ihrer Gedanken.
All die frische, bisher gänzlich unbekannte Wut! Angenommen, sie würde ihr Leben tatsächlich von Grund auf ändern wollen, was ließe sich nicht alles mit diesen neu gewonnenen Energien anfangen? Jesus! Das war doch gar nicht der Punkt! Sie wollte ihr Leben nicht ändern.
Sie wollte es schlicht und einfach behalten!
Zurück zu Hause, schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Ron verlor kein Wort über den Tod dieser bedauernswerten jungen Menschen. Auch erkundigte er sich weder nach ihrem Befinden noch nach dem ärztlichen Bulletin. Er schluckte all die Lügen, die sie ihm ungefragt auftischte, füllte die Kühltruhe mit Fertigmahlzeiten und brachte ihr das Essen ans Bett.
Das war alles.
Die Wochen nach der OP hatte sie nicht mit ihm schlafen können und war froh darüber gewesen. Ihre Weigerung, ihn mit dem Mund zu befriedigen, war schweigend hingenommen worden.
Ihr Gynäkologe hatte sich ebenfalls verweigert – und zwar, sie weiter zu behandeln. Sie insistierte – insgeheim hatte sie das Gefühl gehabt, er fände sie attraktiv und sei nur schüchtern – aber er blieb hart. Sie fühlte sich abgewiesen. Sie fühlte sich wie Marilyn Monroe! Sie lernte jeden gottverdammten OP der Stadt und eine Armada von ausschließlich männlichen Koryphäen auf dem Gebiet der weiblichen Geschlechtsorgane kennen. Denen war sie egal. Sie wurde durch- und weitergereicht, mit ihr war kein Staat zu machen. Die Abstände zwischen den Eingriffen wurden kürzer. Das Gefühl, für sich selbst und andere attraktiv zu sein, wurde zur Erinnerung.
Die Monroe war seit zwölf Jahren tot.
Eine Total-OP hatte dem Ganzen dann ein Ende bereiten sollen. Was den Krebs nur müde lächeln ließ – längst hatte er sich über ihre inneren Organe hergemacht. Körperlich und mental vulnerabler geworden, hatte sie eine schleichende Vorstellung von der Fragilität der Welt entwickelt. Ein typischer Thee-Satz! Ihre Tochter drängte sie seit ewigen Zeiten, sie solle endlich die Augen öffnen und hinsehen!
Der Zusammenhang fühlte sich beschissen an. Gesund, wäre sie selbst wohl auf ewig die Alte geblieben. Was wäre, wenn? Was hätte nicht alles aus mir werden können, wenn-?
In jedem Ramschladen verstaubten dicke Schwarten zu diesem Thema. Einzig und allein Erfolgsgeschichten zählten. Die im Dunkeln, interessierten die Leute einen feuchten Kehricht. All die Tiere und Pflanzen auf der Erde, Millionen und Abermillionen von Organismen, die über keine Stimme verfügten … Letzterer Gedanke hatte einen erstaunlich langen Nachhall, ähnlich der Erinnerung an die verführerische Süße eines Stückchen Kandiszuckers auf ihrer Zunge, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Nur dass besagter Nachgeschmack in diesem Fall eine eher bittere Note enthüllte.

‘Sich für bedrohte Tierarten einzusetzen, sich dem Schutz der durch den Menschen malträtierten Umwelt zu verschreiben!’ dachte sie voller Wehmut. Eine denkbar mögliche Zukunft, unwiederbringlich begraben in der Vergangenheit eines ereignislosen Lebens … Mein Gott, ich war jung! Trotzdem hätte ich meinen Arsch hochkriegen können. Nein, müssen!
Nun war sie zwar noch lange nicht alt, aber sterben sollte sie trotzdem. Sechs Monate, wenn es hochkam. Da sie die ihr anempfohlene Behandlung eigenmächtig abgebrochen habe, womöglich erheblich kürzer, hatten die Weiß-Gewandeten beleidigt geraunt. Ihre Haare im Tausch für einen Zuschlag jämmerlichen Dahinvegetierens? Nicht mit ihr!
Das war vor drei Monaten und offensichtlich auch in dieser Hinsicht zu spät gewesen. Mittlerweile fielen ihr sogar die Schamhaare aus. Kahlköpfig würde sie eine Menge Fragen zu beantworten haben … Zum Glück ließ sich in ihr kurzes Haupthaar an den befallenen Stellen Kunsthaar einflechten. Ihre Stamm-Friseuse Susan stand tief in ihrer Schuld; ein Seitensprung, ein Superschurke, ein wasserdichtes Alibi – das Übliche unter Frauen. Aber all das änderte nichts an der Tatsache, dass sie drauf und dran war, mental zu einem Problem zu werden. Vorerst nur unter der Hand, aber das würde nicht so bleiben. Die Menschen witterten, wenn jemand aus der Spur geriet. Das erbarmungslose Ringen gesunder gegen kranke Zellen, machte vor ihrer Psyche keinen Halt. Harte Bandagen gegen sich selbst, sprich, keinen Millimeter geistiger Flexibilität zuzulassen – wurde zur Tagesaufgabe. Was sie nicht daran hinderte, mit Vorsatz gegen ihre selbstgesteckten Ziele anzurennen. Von welcher Seite man es auch betrachtete: Jeder Sieg fühlte sich schon im nächsten Moment wie eine Niederlage an. Als würde sie einen Tausendmeterlauf gewinnen, nur dass im Ziel bereits ihr anderes Ich wartete – mit strahlendem Lächeln und ihrer Goldmedaille um den Hals. Herr Doktor, haben Sie mich mit ‘ner drallen Blondine aus einem Ihrer feuchten Träume verwechselt? Was sollte ich denn mit einem neuen Gehirn anfangen? Mein Problem sitzt tiefer, Mister!
Gedanken wie saurer Regen, der sich durch ihre Schädeldecke fraß. Was sie sich nicht leisten konnte. Es fraß schon genug an ihr! Von wegen, “der Einzelne könne sehr wohl einen Unterschied ausmachen” … Wovor habe ich solche Angst? Um meine Absicherung im Alter brauche ich mir nun wirklich keine Gedanken zu machen. Ein kleiner Selbstverwirklichungstrip in der Menopause dürfte also durchaus drin sein. Die Earth Week wiederzubeleben; mitzuhelfen, ein US-Büro dieser neuen kanadischen Umweltorganisation aufzubauen …
Ein trotziges Und koste es, was es wolle hinterherzuschicken erschien ihr dann doch zu albern. Sie konnte sich vieles vorstellen, sich wie ein Mann zu benehmen, gehörte nicht dazu. Stattdessen würde sie bleiben, was einer Frau in diesen Zeiten nichts anderes übrig blieb, zu sein – eine Realistin! Greenpeace wird wegen mir nicht nach Alabama kommen. Ich müsste an die Westküste, nach L.A. oder Frisco gehen. Wie sollte ich das anstellen? Und was würde dann aus meiner Ehe?
Ron würde es nicht verstehen. Wie auch? Wer kam schon einfach so an und stellte alles in Frage? Und das in ihrem Alter! Thee? Der würde sie es, der würde sie am liebsten alles erzählen! Ein sonniger Nachmittag Downtown, zwei Eistee mit Minze, so stückig, dass sie ein paar Minuten warten müssen, bis der Strohhalm das kühle Nass freigibt. So gar nichts für Daddy-O. Aber Daddy ist nicht da. Daddy ist nie da. “Du und ich, wir sind jetzt unsere eigene kleine Familie! Wir machen‘s uns schön. Wir machen es uns gemütlich. Aber zuerst muss ich dir etwas sagen, Liebes …”
Unmöglich. Heutzutage geriet sie schon in Panik, wenn ihr Thee’s unerbittliche Urteilssprüche auch nur in den Sinn kamen. Als sei der Tochter die Mutter ans Bein gebunden – anstatt umgekehrt.
Sie fühlte sich wie eine Aussätzige. Nicht so, als würde sie eine Krankheit einschleppen – eher als sei sie diese Krankheit. Sich selbst entkommen zu wollen, war eine Illusion. Man nahm sich überall hin mit. Bis zum Tode. Man musste nur mit dem Flugzeug abstürzen, so wie Doro, oder frühmorgens unter einem Schulbus landen und alles war gut. Für jemanden, der unheilbaren Krebs hatte und leben und obendrein noch glücklich sein wollte, eine so schwachsinnige Alternative wie die perfekte Diät. Dein Liebeskummer lässt die Pfunde purzeln – der gute Johnny reitet in den Sonnenuntergang.

‘Vielleicht stinke ich da unten ja mittlerweile nach totem Fisch. Oder gleich nach Exkrementen!’, barmte Ruth tonlos, schockiert über diese ihr bisher absolut fremde Art zu denken. Angeblich sollte es das auch bei anderen Frauen geben, wie sie diversen “Gesprächen unter Männern” entnommen hatte, während besagte Herren sich arglos unter sich wähnten. Frauen, die 70, oder gar 80 Jahre alt werden würden. Deren Männer sich mit Frischfleisch über die Zeit retteten, bis sie lange vor ihnen an Prostatakrebs eingingen.
Aufgrund seines extrem hochtönigen Schnarchens schliefen Ron und sie getrennt – sie im Schlafzimmer, er die drei, vier Stunden, die er benötigte, auf der Couch unten in seiner Werkstatt, welche ihm auch als Arbeitszimmer diente.
In den knapp zwanzig Jahren ihrer Ehe hatte es dennoch nur wenige Nächte gegeben, in denen er sie nicht mindestens einmal besucht hatte, versuchte sie sich zu beruhigen. Andererseits … diese wenigen Nächte häuften sich in letzter Zeit. Wenn es doch einmal dazu kam, sollte sie während des Akts immerzu nur noch auf ihm sitzen. Sein Rücken? Er sagte ja nie was! Dass sie in dieser Position Krämpfe in den Oberschenkeln bekam, schien ihn nicht zu interessieren. Nur für einen Blowjob war er immer zu haben. Näher könne eine Frau einem Mann nicht “kommen”. Ach, Baby. Dazu würde mir auch was Hübsches einfallen … Aber das letzte Mal, als Ronnie an ihr herunter gegangen war, hatte er sich ständig unterbrochen, kräuseliges Silbergrau aus seinen Zahnlücken gepult und in sein Whiskyglas gespuckt, bis sie beide keine Lust mehr gehabt hatten.

‘Was, wenn Ron mich verlässt?’, dachte sie, während ihr der Schweiß ausbrach. Weil er eine andere hatte? Eine dieser jungen G-r-a-z-i-e-n, die, im Gegensatz zu ihr, offenbar nach frischen Frühlingsblumen dufteten, wenn sie feucht wurden. Oh mein Gott!
Als würde Dad in der Hölle einen Urlaubsschein schnorren und androhen öffentlich zu machen, dass sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gevögelt hatte, wenn auch nur in Gedanken. Als läge es in der Familie, für etwas bestraft zu werden, was man nie getan hatte. Für immer und ewig vereint, meine kleine, süße Ruthie! Überraschung!!! Kitchen-Party mit Daddy-O! Ich und du, du und Marcy, Marcy und ich – wir werden ein Herz und eine Seele sein! Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal an diesen unbestrittenen Höhepunkt ihrer beschissenen Jugend gedacht hatte … “Jeden einzelnen Tag, du verlogene Göre. Denk mal drüber nach, warum ausgerechnet der liebe Ron an meine Stelle getreten ist. Nicht von ungefähr, my Sweetie. Nicht von ungefähr. Aber was willst du machen? Von der Porch springen? Schätze, einen knappen Meter bis ins fluffig, weiche Gras. Könntest dir glatt den Knöchel verknacksen, mein geliebtes Töchterlein!”

‘Wie deplatziert eine Dame im Abendkleid doch wirken kann! Und das ausgerechnet in ihrem angestammten Reich, der Küche!’, dachte Ruth und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Was hätte sie dafür gegeben, Marcy’s Anwesenheit für einen weiteren, unendlich kostbaren Moment ausblenden zu können. Dieser verfluchte Abend würde sich so oder so endlos in die Länge ziehen! Reagieren wie auf Autopilot: Ja / Nein. Ein Lächeln hier / ein Stirnkräuseln da. Offensichtliche Tatsachen ignorierend / sich mit der unangenehmen Situation arrangierend: Routine im Leben einer jeden amerikanischen Ehefrau.
Ruth schossen die Tränen in die Augen. Sie öffnete die Kühlschranktür, welche ein gutes Stück größer war als sie selbst, und zwang sich, ihre Stimme so ruhig und bestimmt wie möglich klingen zu lassen:
“Willst du nun einen leicht abgekühlten – von eisgekühlt ist nie die Rede gewesen -, also, möchtest du nun ein Glas, oder nicht?”
Marcy tat so, als gäbe sie sich geschlagen. Eine angefressene Ruthie? Gab es das überhaupt? Beinahe besserer Stimmung – Oh, Darling! – gab sie sich alle Mühe, jedweden Zynismus aus ihrer Stimme zu verbannen:
“Mit dem größten Vergnügen, wenn du so freundlich sein willst! Mein Gott, jetzt fang doch nicht gleich an zu heulen! Wie oft denn noch! Es tut mir leid! Zumindest bis die Situation vollends kippt und ich noch ernsthaft sauer werde!”
Spontane Versuche in Echtzeit, konnten auch in Echtzeit fehlschlagen, dachte Marcy. Aber manchmal musste man seinen Punkt anbringen – schlicht und einfach, um nicht zu explodieren! Die Sensorik des Kühlschranks hatte registriert, dass die Temperatur in seinem Inneren leicht gestiegen war. Als Modell der neuesten Generation machte er seinen Punkt mittels emsigen Summens des Kühlaggregates geltend. Dies war alles, was im Moment zu hören war.
Die Damen saßen schweigend am Küchentisch – mit starrem Blick, äußerlich vollkommen reglos. Die Szene mutete an wie in einem Comic, in welchem der Zeichner höchstselbst in den Zaubertrank gefallen war.
Marcy löste als Erste das Band der eingefrorenen Zeit. Sie nippte an ihrem Glas, versonnen in die Ferne starrend, als sähe sie sich selbst – überlebensgroß – auf der Leinwand eines Autokinos. Nichts war real. Das ganze Leben bestand aus einer endlosen Reihe angenommener Tatsachen und falscher Voraussetzungen. Im Grunde wusste man nichts. Lange hatte sie die Hoffnung gehegt, dass die Liebe und das Wissen um den eigenen Platz im Leben darüber entscheiden würden, ob ein Mensch sein Glück auf Erden fand. Mittlerweile fühlte sie sich von solcherart naiven Vorstellungen geheilt. In der realen Welt, welche auf falschen Wertvorstellungen und unerfüllbaren Anforderungen an den Einzelnen beruhte, gab es so ungefähr eine Million Möglichkeiten, die falschen Entscheidungen zu treffen. Eine davon erwischte man garantiert immer. Alles drehte sich nur darum, wie man seinen Schnitt machen konnte. Und unauffällig durchkam.
Inmitten des amerikanischen Alptraums plackten sich die Leute ab, bis sie anfingen zu glänzen. Den Rest des Tages saßen sie ihre Zeit ab. Wer sich einsam fühlte – fast alle waren einsam – ließ sich mit den falschen Leuten ein. Ihr Vater hatte das abgelehnt und war in Einsamkeit gestorben. Mutterseelenallein, von allen verlassen. Nicht einmal sie, seine eigene Tochter, hatte er an sich herangelassen! Aber offenbar hatte er es genauso gewollt. Jedenfalls sah sie das so. Also musste es auch so gewesen sein.
Eines Tages würde abrupt Schluss sein und jeder wusste es und alle hatten die sprichwörtliche Todesangst davor. Manchmal hatte sie das Gefühl, aus nichts anderem mehr, als panischer Angst vor der Erkenntnis zu bestehen, ihr Leben auf Erden regelrecht vergeudet zu haben. Wie Rauch, der über dem Feuer emporstieg und sich im Nichts der Dunkelheit verlor.
Für wen hatte sie sich die ganzen Jahrzehnte hindurch aufgerieben? In jungen Jahren Industriedesign studiert, sich durch eine Lehre als Herrenschneiderin am Marian Gallaway Theater gequält und im Frühjahr ‘56 – ihre Tochter Lilly war da noch nicht einmal zehn Jahre alt gewesen, Waynie eineinhalb – mehrere Semester Business Management an der University of Alabama durchgestanden? Wem hatte sie etwas beweisen wollen?

Wie wärs mit: Dir selbst? Zählt das Nichts?
Nimmst du mich auf den Arm?
Nur wenn du es verdienst, Mädchen. Nein, ernsthaft. Warum bist du nicht einfach stolz auf das, was du erreicht hast?
Ich weiß es nicht. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich hatte eine Vorstellung, von meinem Leben, von der Liebe, von Allem. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich so unendlich zäh gestalten würde. Alles fühlt sich so, so anders an. Wie eine falsche Bestellung. Als habe man eine leichte Bluse aus Viskose gewählt, nur um draußen in der Kälte auf den Wagen jenes Mannes zu warten, der nur in den eigenen Träumen existiert.

War das Erlernen des Schneiderhandwerks ein notwendiges Übel gewesen, um sozusagen, Bescheid zu wissen, stellte das Betriebswirtschaftsstudium ein unvermeidliches Muss dar, um nicht in der Luft zerrissen zu werden, sobald man als Frau den Anspruch vertrat, führen zu wollen.
Ihre wahre Leidenschaft hatte dem dritten im Bunde, ihrem Designstudium, gegolten. Dem entscheidenden Baustein auf dem Weg zur Verwirklichung ihrer Vision: Die klaren Formen zeitgenössischer Architektur in tragbare, schlichte und dennoch edle Mode zu übertragen. Für aktive, im Leben stehende Frauen, die sich, ebenso wie sie selbst, in verschiedenen Lebensbereichen heimisch fühlen und auf ihren Wegen nicht von zu viel Tüll samt Überwürfen behindern lassen wollten – während sie gleichzeitig allergrößten Wert darauf legten, als elegant gekleidete Damen von Welt wahrgenommen zu werden.
Die erste – sieben lange Jahre währende – Phase gestaltete sich zäh, um nicht zu sagen, desillusionierend. Die republikanischen Upper Class-Ladies in Tuscaloosa und Montgomery liebten Tüll und Spitze mindestens ebenso sehr wie das Nichtstun. In den als progressiv geltenden Landesteilen, an der West- oder gar Ostküste, interessierte sich kein Schwanz für ein neues Modelabel aus einer Rassisten-Hochburg im Herzen von Alabama.
Ausgerechnet ein schwarzer Pastor, ein gewisser Dr. Martin Luther King Jr., sowie dessen Bemühungen in gänzlich anderen Sphären, denen der Politik, sollten ihr Modelabel MarCee zu einem der Newcomer der US-Modesaison 1965/66 avancieren lassen. Im Frühling ‘65 sorgten die von Mr. King initiierten Märsche von Selma nach Montgomery für landesweites Interesse. Ganze Heerscharen von Presseleuten – unter ihnen auch einige namhafte Journalistinnen aus den Redaktionen der großen Blätter in New York und Washington D.C. – fielen in die Stadt ein und sorgten dafür, dass die so üblichen wie verdächtigen Nebensächlichkeiten auf keinen Fall zu kurz kamen. Wie lebten diese Hinterwäldler? Wie vermehrten sie sich? Gab es welche, die anders waren? Gab es welche, die keine Rassisten waren???
Eine beträchtliche Anzahl junger, wohlhabender weißer Männer und Frauen aus allen Ecken des Landes hatte sich den Protestmärschen angeschlossen und sich erstaunlich solidarisch mit den Negroes, oder wie es heutzutage hieß, der Gemeinschaft der Afro-Amerikaner gezeigt. Menschen aus durchaus als elitär zu bezeichnenden Kreisen, mit Geld und Geschmack, von denen einige besonders Telegene ausgerechnet ihre Kleider und Accessoires getragen hatten. Weswegen diese plötzlich auf den Titelseiten der Magazine, ja vereinzelt sogar in den Schlagzeilen der Abendnachrichten auftauchten! Sieh mal einer an, von wegen im Süden werden nur weiße Kapuzen zusammengenäht!
Mrs. Lee Radziwill, eine Stil-Ikone von der Ostküste, war sich offensichtlich zu fein gewesen, um in Katalogen zu wühlen. Stattdessen ließ sich die Dame die komplette Herbst/Winter-Kollektion nach Manhattan liefern.
Und schickte nicht ein einziges Teil zurück. Meine Freundinnen, deren Töchter und deren Freundinnen – Alle sind sie vollkommen vernarrt in Ihre Sachen! Und, nebenbei bemerkt, auch in Ihre Story, Verehrteste! Wenn Sie jemals nach Manhattan kommen wollen, meinem Makler wird es eine Ehre sein, etwas ganz besonders Exquisites – mit Blick auf den Hudson, den Central Park oder das Empire State (?) – für Sie zu arrangieren!
Mrs. Lee verkörperte MarCee’s modisches Konzept für die dynamische, moderne Frau von heute in Personalunion: Innenarchitektin, Schauspielerin, Autorin, Mutter, Muse und Femme Fatale. Vor allem aber war sie die jüngere Schwester der Ex- First Lady Jackie Kennedy und Schwägerin des ermordeten Präsidenten. Was sie selbst, als Bewunderin von Oleg Cassini, jenes Modeschöpfers, der für den unnachahmlichen Stil von Mrs. Kennedy verantwortlich zeichnete, regelrecht sprachlos zurückließ. Außerdem war sie zeitlebens verrückt nach Mr. Kennedy gewesen! Weswegen sie auch nie aufgehört hatte, um ihn zu trauern …
Sie erinnerte sich, dass Mrs. Radziwill damals auch auf die Situation im Süden zu sprechen gekommen war. Aufgrund des eigenwilligen Namens hatte sie Madame zunächst für eine Jüdin gehalten, tatsächlich entstammte sie einem uralten, slawischen Hochadelsgeschlecht. Mrs. Lee hatte sich über ihr Geständnis, Reverend King sei, sozusagen, ihr Entdecker, amüsiert gezeigt und folgende Anekdote zum Besten gegeben: Nach Jacks Tod habe ihr Schwager Bobby ihr gegenüber zugegeben, dass er den Mann jahrelang hatte abhören lassen. Der Befehl dazu sei nicht von Mr. Hoover, sondern durch ihn persönlich, in seiner Eigenschaft als Justizminister und oberster Kommunistenjäger ergangen. Die Resultate hätten ihn beschämt, und seine Sichtweise auf den Kampf der Schwarzen um ihre Bürgerrechte für immer verändert. Mr. King sei einer der Wenigen, der nicht einfach mit dem Finger auf die Weißen, oder die Polizei zeige, sondern die Ursache für den grassierenden Rassismus in den sozialen Ungerechtigkeiten, im Kampf zwischen arm und reich erkannt habe. “Arm und Reich …” Natürlich! Genau das steht in Thee’s Brief! Als sei sie ganz von selbst darauf gekommen!
Die Kennedys, gebeutelt von einem nicht enden wollenden Strom an Schicksalsschlägen, hielten zusammen wie ein Mafia-Clan. Jedenfalls dauerte es nicht lange, bis Ethel, die Ehefrau von Mr. Robert F. Kennedy, auf ihre Sachen aufmerksam wurde und sowohl privat, als auch zu offiziellen Anlässen ausschließlich ihre Kleider trug. Auch in jener schrecklichen Nacht, vom 5. auf den 6. Juni ‘68, im Ambassador … Von dem Moment an, in dem Bobby auf dem Küchenboden aufschlug, schoss die Anzahl der Bestellungen förmlich durch die Decke! MarCee eröffnete Verkaufsräume auf der Madison Avenue in Chicago, auf der 6th Avenue in Manhattan, ja sogar in Downtown Washington D.C.! Zeitweilig fühlte es sich an, als sei Mrs. Marcy Wallach mitsamt ihrer Firma ins Lager der Demokraten übergewechselt!
Aber alles hatte seine Zeit gehabt. Hatte es das? Die Zeiten, in denen Frauen in verantwortlicher Position eine Selbstverständlichkeit darstellen würden, lagen offensichtlich noch weit in der Zukunft verborgen. Wenn überhaupt …
Wann immer im Verlauf ihrer Karriere auch nur die kleinste Sache schiefgegangen war, hatte es stets geheißen: Nun, wir haben es ja gleich gesagt. Hatte man Erfolg, bekam man einen freundschaftlichen Klaps auf den Po und ein übertrieben falsches Oh! und Ah! hinterher. Jede Präsentation abseits des Catwalk geriet zum Spießrutenlauf: Ganz nett eigentlich, diese schmucklosen Fummel. Andererseits, auch nicht wirklich. Ich weiß nicht; wirkt alles eher kriegerisch, so Amazonen-like. Meine Frau findet es übrigens auch nicht so doll. Zu einer Geschäftsbesprechung mit Mrs. Wallach im privaten Rahmen hingegen, würde ich definitiv nicht nein sagen. Man muss den Mädels schließlich auch mal ‘ne Chance geben!
Sämtliche ihrer Interviews waren nach dem gleichen Schema verlaufen. Eine ebenso pflichtschuldige wie gelangweilte Frage zur Firma, gefolgt von einer hölzern-plumpen Umleitung auf das, was tatsächlich einen sogenannten Informationswert besaß: Ihr Kleid, ihre Schuhe, die Frisur, das Lieblingsparfüm. Nicht zu vergessen, das von ihr favorisierte Waschmaschinenmodell! Die Leser seien an einem persönlichen Einblick in ihr wahres Leben interessiert! Zum Beispiel, ob sie überhaupt ein Leben habe?! Sie sei ja sicherlich viel unterwegs. Den Geschäftsführer für MarCee zu mimen ginge ja auch schlecht von der heimischen Küche aus. Wie es sich da denn anfühle, sich einerseits viel zu viel zuzumuten … und andererseits aus nächster Nähe miterleben zu müssen, welche Konsequenzen das für jene habe, die sich nicht wehren könnten? Den Mann, die Kinder. Man wolle ihr nicht zu nahe treten, aber es entspräche doch den Tatsachen, dass sie zweifache Mutter sei?
Irgendwann hatte sie ein ausgewachsenes Reizdarmsyndrom entwickelt. Ihre Tagträume, gespickt mit Gewaltphantasien gegen gerne auch mal Jedermann, hatten sie dem Zusammenbruch gefährlich nahekommen lassen. Der Kassensturz zum Ende hin hatte sich zwar durchaus sehen lassen können, die Gesamtbilanz indes, ließ sich höchstens als durchwachsen bezeichnen: Sie hatte sich einen Namen gemacht. Und so manchem alteingesessenen Platzhirsch in den Arsch getreten. Andererseits war sie vor ihrer Karriere bedeutend reicher gewesen, als danach. Ausgerechnet ihre Tochter Lilly, die sich nie für Mode oder die Arbeit ihrer Mutter interessiert hatte, führte nun die Firma. Ziemlich erfolgreich sogar. Was ihr, die sie all das aufgebaut hatte, mehr Herz und Seele zerfraß, als alles andere.

‘Der Wein schmeckt immer noch phantastisch!’, dachte Marcy. Was sie Ruth gegenüber ums Verrecken niemals zugegeben hätte. Diesen Wein in seinem Ursprungsland genießen zu können, umgeben von kultivierten Persönlichkeiten, die es nicht nötig hatten nur so zu tun als ob! Millionenfach hatte dieser Aufschneider davon geschwafelt, sie eines Tages auf eine große Europareise einzuladen. Ja, und auf den Mond, den Mars, den Grund des Ozeans-
Ein einziges, nur ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie es bis nach Europa geschafft. Im Sommer letzten Jahres, auf Einladung von Ron und Ruth.
Zusammen mit deren Tochter, der frühreifen Theresa. Thee, 18. Fast auf den Tag genau zehn Jahre jünger als ihre Tochter Lilly. Thee, die Tochter des Mannes, mit dem sie schläft, mit dem sie ihren Mann und Theresas Mutter, ihre beste Freundin Ruth, hintergeht. Thee, die sie vollkommen überrumpelt hat …
Natürlich war Bob zu Hause geblieben. Das übliche Geschwafel: Er sei beruflich unabkömmlich, die Geschäfte auf den griechischen Inseln hätten einen kritischen Punkt erreicht; bla, bla, bla. Sie war erleichtert und trotzdem wütend auf ihn gewesen. Er hatte es versprochen! Tausendfach. Eigentlich immer, wenn er sie hatte ins Bett kriegen wollen. Du und ich, in Paris! Oh, my Darling! Eines Tages …
Stattdessen weites, leeres Land. Kurz – ihre Ehe.
Bob, der große Reden führte. Bob, der betuttelt werden, der jeden Abend einen runtergeholt bekommen wollte, wenn sie ihn denn schon nicht in den Mund nähme. Das war alles, was ihn interessierte. Einfach grässlich! Dieses süffisante Grinsen, der Sermon von der Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten als Generals-Vorwurf im Dauerabo-Abo: Du frigide Bitch. Du hast Probleme. Nein, du bist das Problem!
Wo stand geschrieben, dass eine Frau so etwas hinzunehmen hatte? Fast dreißig Jahre – Lügen über Lügen. Dreißig Jahre, welche nur deshalb zusammengekommen waren, weil sie nach den ersten Zehn gedacht hatte, wenn sie jetzt aufgäbe, müsse sie sich eingestehen, ein volles Jahrzehnt ihres Lebens in den Sand gesetzt zu haben. Und eines Tages wachte man dann auf und wusste: Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es gar kein weiteres, kein neues Leben mehr geben! Weil die Sache gelaufen war; selbst wenn man ewig leben würde! Allein schon wie sie sich kennengelernt hatten …
Er: Gestatten, Wallach.
Sie: Oh, das tut mir aber leid für sie, Mister!
Lächerlich. W-a-l-l-a-c-h! Von wegen! Hätte sie gewusst, was auf sie zukommen würde, hätte sie den Mistkerl höchstselbst kastriert! Flüstere es leise vor dich hin: Ich hasse ihn! Ich will, dass er tot ist! Ich werde mich, Oh Jesus … Ich werde mich scheiden lassen!
Marcy nahm einen weiteren Schluck, für Sekundenbruchteile die perfekte Einstellung erhaschend. Die wohlige Wärme von Alkohol und die Süße der Erinnerung, das reflektierende Licht eines Kameraobjektivs, welches ihr sanft den Nacken streichelte …

Rom.

Einfach unbeschreiblich.

Kaum zu glauben, dass es sich um den gleichen Planeten, um die gleiche Hemisphäre wie in Tusca handelt. Das Tageslicht ist so anders … als wäre es mit feinster, lachs-rosa schimmernder Gaze überzogen. Ein opulenter, klassizistischer Konzertsaal – an diesem Abend die Bühne für die musikalischen Klänge von Mozarts letzter Oper, La Clemenza di Tito von 1791. Wenn die Opulenz der Bilder jeden irdischen Gedanken ausblendete; man förmlich anfing sich in sich selbst aufzulösen – wurde dann nicht alles zu Musik?
Die Pause nach dem ersten Akt, ein prunkvolles Foyer, eine betörende Szenerie: Hauchdünne Sektgläser, umklammert von wächsern wirkenden, in ihren Ausläufern mit roten Tupfern versehenen Handgelenken; diamantenbesetzte Handtäschchen, im Raum schwebend als seien sie schwerelos; festliche Roben in vollendeter Körperhaltung, getragen zu rosig gepuderten Wangen, unter denen – gleichermaßen überlegen wie verräterisch – eine vornehme Blässe hindurchschimmert; würdevolle Smokings, mit perfekt sitzendem Querbinder, fest auf dem Boden von Geschichte und Tradition, welche ihren Gattinnen lässig Feuer geben.
Inmitten dieser faszinierend neuen Welt, der ultimative, so unendlich vertraute Kontrapunkt – du.
Wir kennen uns, seit du ein kleines Mädchen warst. An ungezählten Nachmittagen habe ich dir, auf der Schaukel im Garten hinter dem Haus deiner Eltern, zum nötigen Schwung verholfen. Ich habe dich am frühen Abend ins Bett gebracht und dir vor dem Einschlafen kindisches Zeugs vorgelesen.
Nun sind wir zusammen über den großen Teich gekommen, haben im selben Hotel eingecheckt und nach dem Lunch noch schnell einen Cocktail am Pool genossen. Und dennoch – jetzt, hier – kommt es mir so vor, als sähe ich dich zum ersten Mal. Voller Begierde alles um mich herum verschlingend, es mir einzuverleiben für immer und ewig – dabei will ich doch nur dich, dich ansehen! Weswegen alle meine Sinne vor Überforderung aufschreien und ich dir um ein Haar zum ersten Mal untreu werde, allein, weil ich alles auf einmal haben will!
Mein Gott, wie schön du bist …
Habe ich je die Lust verspürt, über mich selbst herzufallen? Natürlich nicht! Das heißt, ich weiß es nicht genau … Wie soll man sich an Empfindungen erinnern können, die man ein Leben lang weit von sich wies? Nun ist alles anders. Ich fühle mich begehrt. Begehrenswert! Ich begehre dich!
Ich will dich.
Fluoreszierende Bilder, schwarz-blaues Glitzern in deinen Augen. Als wüsstest du um die Antworten auf all meine Fragen. Dabei bist du noch so blutjung … Du. Ich. Ein diffuses ‘Wir’.
Es wird diffus bleiben.
So sehr auch mit allen Sinnen gewollt. Sich bereits im Moment des Erlebens dagegen sträubend, das Schicksal trivialer Erinnerungen teilen zu sollen. Zustimmendes Raunen und verhaltener Beifall dreunte herüber, von längst vergangenen, nächtlichen Ozean-Spaziergängen, wo die Brandung nicht zu sehen, dafür umso lauter zu hören war. Die rauschende Party zu JFK’s Amtseinführung. Die Dominanz von Sinatras Shark Skin-Anzügen – während sein Haifisch-Blick ihre Brustwarzen hart und ihren Schoß feucht werden ließ. Auch wenn sie augenblicklich spürte, dass er ein Angstbeißer war, so wie Bob. Ein weiterer kleiner Gangster, der nicht das Zeug dazu hatte, ein Großer zu sein – und darum nur umso mehr Schaden anrichten würde.
Aber nun bin ich hier. Wir stehen uns gegenüber. Noch ist es nicht … noch ist nichts passiert. Im Gegenteil – etwas beginnt, etwas, das dazu führen könnte. Ein Zustand den ich unendlich genieße. Vielleicht, weil er auf so brutale Weise endlich ist.
Ich hole tief Luft. Spüre die Abwesenheit jedweder falschen Gesellschaft. Von Verlustangst keine Spur. Wird dieses eine Mal in Gänze darauf zu verzichten sein? Mein stets vergebliches Bemühen den Moment anhalten zu wollen, scharrt nervös mit den Füßen. Mir wird bewusst, wie armselig es ist, sich pausenlos vor etwas wappnen zu wollen, von dem man ausgeht, dass es unweigerlich über einen kommen wird.
Über die Jahre bin ich schwach und zynisch geworden. Zur vollkommenen Erstarrung hat es, Oh Wunder, noch immer nicht gereicht. Von all dem hatte Thee keine Ahnung, aber sie konnte es wohl fühlen, denn so stand sie da. In ihrer Robe von Yves Saint Laurent und den weißen, seidenen Handschuhen. Mit ihren rehbraunen Augen, den Augen ihrer Mutter …
Die Angst lässt sich dazu herab, mir eine Schonfrist zu gewähren. Wie generös, angesichts der Tatsache, dass ihr auf Dauer niemand entkommen wird. Nicht einmal in Europa, wo die Leute anders ticken. Wo es üblich zu sein scheint, sich den eigenen Ängsten zu stellen, sie exzessiv zu verbalisieren und ungefragt herauszuposaunen, um lautstark sein Recht auf allerlei Nonsens einzufordern.
Ein sanftes Pling – dein Sektglas touchiert das meine. Millionen und Abermillionen feinster Perlen – jede einzelne im Vergehen ihr eigenes kleines Feuerwerk, gebunden in eiskaltem Prosecco, so staubtrocken, als ließe sich in diesem Land selbst der Sand am Meer noch trinken.
Wir sehen einander in die Augen. Wie unzählige Male zuvor. Ein Wunder? Liebe? Die Götter, hinabgestiegen und sich uns zu Füßen gelegt? Mein Gott, wie schwülstig! Aber welche Worte sollte es sonst dafür geben? Warum sich den letzten Rest Romantik, den letzten Rest an seelischer Unverbrauchtheit aufsparen? Für Gelegenheiten, welche doch niemals eintreffen würden? Nein.
Stattdessen ein großes Ja.
Und es ist gut.
Dann kommen die Gedanken wieder. Die Gedanken kommen immer wieder. Thee’s großes Ja … Für mich ein überlebensgroßes vielleicht. Liebe? In jedem Fall mit nichts zu vergleichen, was mir je untergekommen. Dabei habe ich so oft schon geliebt. Oder etwa nicht? Manchmal habe ich keine Kraft mehr. Was soll das werden? Egal. Nein. Ganz und gar nicht egal!
Ich liebe dich.
Ich weiß nicht, ob ich es bis zu dir schaffe.
Tags darauf hatte sie im Hotel am Fenster gestanden. Ein kurzer Sommerregen, der Nachmittagshimmel eingehüllt in Wasserdampf. Wütend über den unerbetenen Gruß aus der Heimat, hatte sie auf die majestätische Silhouette der Stadt geblickt: ‘Was für ein kitschiges Gemälde!’
Der aufziehende, prächtige Regenbogen – offenbar ein Geschenk der Götter sie zu besänftigen. Es war so unendlich anstrengend – sie. selbst. zu. sein! Irgendwo da draußen lauerte die Zukunft. Die kein Mensch je zu sehen bekam. War man dort, war sie längst weitergezogen. Verhieß ihre momentane Gegenwart nicht eine zumindest denkbare, bessere Zukunft? Glück? Liebe? Geborgenheit? Erfüllung? Es war so albern, diese Worte klangen so albern. Die Luft, der Damast ihres Kleides, die freundliche Stimme der Rezeptionistin am Telefon – ertränkt in Wärme und Licht. Was für eine Harmonie … Unerträglich. Am liebsten hätte sie auf der Stelle irgendwo im Busch einen Tiger geschossen! Sie dachte an die Kinnpartie von Kirk Douglas. An dessen Rolle in Spartacus. Das teuflische Lachen, wie ein Visier über seinen Gesichtszügen. Diese blasierten Römer hatten ihm alles genommen und ihn dennoch nicht brechen können. Nicht mehr lange und das Imperium würde implodieren und alles mit sich ins Verderben reißen!
Damals in Rom, in Bella Italia …

“Die Trennung ist!”, fauchte Marcy, stürzte ihr Glas hinunter und hielt es Ruth mit gespielt fordernder Miene vor die Nase. Wenn sie etwas gelernt hatte im Leben, dann sich von ihrer naturgegebenen Unersättlichkeit zu distanzieren, indem sie diese bis ins Groteske hinein überzog.
Ruth huschte ein Lächeln über die Lippen. Lametta, Sternenstaub und Goldglitzer verbanden sich zu einem Klumpen aus Genugtuung und endeten, vereint zu einer imaginären Brosche, am Revers ihres Abendkleides. Ohne das übliche, gleichermaßen beschwichtigende wie abschwächende Augenrollen zu bemühen, schenkte sie Marcy nach und füllte ihr eigenes, kaum angerührtes Glas bis zum Rand.
Eine Frau von Welt betrank sich grundsätzlich allein, dachte sie. In der Öffentlichkeit erhob man sein Glas lediglich zum Zeichen der Geselligkeit …! Obwohl eine dreiste Lüge, war es doch eine ziemliche perfekte. Ganz gleich, ob eine Dame gelegentlich ebenso betrunken war wie im Allgemeinen die Herren der Schöpfung, entlarvten Letztere ihren tatsächlichen Zustand in der Regel zwangs-läufig in dem Bestreben, ihre männliche Fitness vor einer nächtlichen Zeugin unter Beweis stellen zu wollen.
Voller Pathos, als würde sie niemanden geringeren als Marcus Licinius Crassus höchstselbst zum Censor der römischen Republik krönen, verstaute Ruth die Flasche im Kühlschrank. Sie genoss ihren Auftritt und war dennoch, wie so oft in letzter Zeit, irritiert von ihrem Gebaren. Nie, nie, nie war sie eine Verfechterin reflexhaften Nachtretens gewesen. Andererseits, warum sollte sie sich nicht auch einmal etwas gönnen, wie zum Beispiel eine – in ihren Augen längst überfällige – Replik?
“Weißt du, meine liebste Marcy, es würde dir nicht schlecht zu Gesicht stehen, wenn du dich von Zeit zu Zeit dazu entschließen könntest, etwas weniger hochtrabend daherzukommen. Ich sehe es förmlich vor mir, in goldenen Lettern über den Filmtheatern von Küste zu Küste: “Marcy unter den Barbaren, Teil 1 “Das Massaker – Chateau Palmer aus der Tiefkühltruhe!”
“Also jetzt hör mal …”, setzte Marcy zu einer Plattitüde an, von der sie hoffte, sie würde auf die Schnelle Sinn ergeben, aber Ruth schnitt ihr das Wort ab. “Nein! Ich rede jetzt, du hörst zu! Was denkst du dir eigentlich, was Ron und ich nicht alles bereit wären zu opfern, damit Leute wie du nicht pausenlos über uns herfallen? Richtig geraten: So gut wie alles, meine Teuerste! Du hast doch heute Abend wohltemperierten Wein getrunken, oder etwa nicht? Und nicht nur Irgendeinen! Vom Preis gar nicht zu reden, du blasierte …, entschuldige, das nehme ich zurück, aber … schließlich hast du es eben selber zugegeben! Soll ich dir mal was sagen? Wenn ihr und all die anderen endlich raus seid, dann sind wir doch wohl alt genug, unser Leben so zu gestalten, wie wir es für richtig halten? Oder etwa nicht? Mein Mann und ich zum Beispiel, wir stehen auf Erfrischungen. Oh mein Gott, dass man das erklären muss! Es ist so gottverdammt heiß hier! Spürst du es nicht auch? Oder bekommst du rein gar nichts mehr mit? Ich meine, worüber reden wir hier eigentlich? Ein eisgekühlter Drink, Jesus! Geradezu lächerlich, sich dafür rechtfertigen zu müssen! Und, wo ich einmal dabei bin, ich weiß genau, was du von mir denkst!”
“So, was denke ich denn?”, äffte Marcy sie nach. “Woher willst du wissen, was jemand wie ich denkt?“, schrie sie hinterher und wünschte, sie wäre einmal im Leben ruhig geblieben.
“Weil ich weiß, was ich darüber denke, du aufgeblasenes Stück.”, konterte Ruth ungerührt: “Aber da liegst du falsch! Mein Ron ist nicht Bob. Vergiss das nicht. Dein Bob …!”
Marcy’s Stimmbänder fluteten die Szenerie, als kuschele sie mit einem Leopardenfell, welches seinerseits im Kontakt mit dem Elektroschocker eines Wildtöters stand: “Yeah! Mein Bobby-lein will dich vögeln!!! Was für überaus überraschende Neuigkeiten!!! Der will alle Weiber vögeln! Der würde sogar ein Giraffenweibchen begatten, wenn er denn rankäme! So what …?! Könnte es sein …?”, legte sie mit vor Abfälligkeit bebender Stimme nach, “könnte es sein, dass du nach, ich schätze mal so um die fünf Jahren Grabesruhe, plötzlich wieder menstruierst? Oder was ist heute mit dir los? Eine kleine Marcy, einfach mal so im Vorbeigehen? Das schaffst du niemals! Nur falls du es vergessen haben solltest:
ICH BIN HIER DIE BITCH!!!
Denk doch nur mal an deinen Ronnie, Gott, was würde es dem für einen Schrecken durchs Glied, ich meine, durch die Glieder jagen, sollte er Zeuge dieses Theaters werden, das du hier veranstaltest! Und nur falls du es noch nicht mitbekommen hast: Ich wollte mich heute Abend einmal, ein einziges gottverdammtes Mal, bei dir ausheulen! Stattdessen muss ich mir hier diesen Sermon anhören! Warum begnügst du dich nicht, wie sonst auch, mit deiner Rolle als Mrs. Schmusekatze Mau-Mau-Mau? Für mich, einfach nur für mich! Ich bin’s doch, deine allerbeste Freundin! Du musst dir nicht einmal diverse Tipps und Ratschläge aus den Rippen schneiden! Ich brauch das nicht! Ich weiß so schon viel zu viel! Sagen wir, ich will schlicht und einfach, dass das Bild stimmt, okay?! So halten das die Leute, wenn sie drohen die Fassung zu verlieren! Auf dass ihr allesamt im Nachhinein sagen könnt: ‘Oh Ronnie, Oh Ruthie-lein, ja so ist das eben, dabei haben wir doch nun wirklich alles Menschenmögliche versucht, ihr zu helfen!’ Und raus seid ihr, alle miteinander! Also, könntest du dir unter Umständen vorstellen, den heutigen Abend ohne weiteres Störfeuer hinter dich zu bringen? Schon allein deshalb, weil es, streng genommen, eine Gefälligkeit von mir an dich, bzw. an euch darstellt? Ihr seid den Mistkerl dann schließlich auch für alle Zeiten los! Ja? Fein. Ach, und was Monsieur Palmer angeht – serviert euch diesen französischen Götter-Tropfen – für, ich schätze mal so an die 100 Bucks – doch am besten mit Eiswürfeln und lutscht solange daran rum, bis ihr euch genügend erfrischt habt!”
Wann immer Ruth nicht zu fassen vermochte, was die Menschen ihr verbal entgegenschleuderten, folgte sie in der Regel dem Impuls, ganz naiv nachzufragen: Ob man das soeben Geäußerte noch einmal wiederholen könne? Innerlich neigte sie in solchen Situationen zu der Vorstellung, alles nur geträumt zu haben. Ein Hirngespinst, nichts als ein Hirngespinst. Du musst keine Angst haben, du bildest dir das alles nur ein.
Mit kritischer Selbstreflektion, oder dem Wunsch nach Verständigung hatte dies nicht das Geringste zu tun. Eher mit einer Form von Echo, dessen Ursprung in ihrer ganz eigenen Vorstellung von der Beschaffenheit der Welt lag. Von Kindesbeinen an hatte sie sich energisch geweigert, die Realität als solche anzuerkennen. Stattdessen hatte sie es sich in ihrer ganz privaten Traumwelt gemütlich gemacht.
Aber das war jetzt vorbei!
“Was hast du gerade gesagt?”, entgegnete sie mit belegter Stimme, als plage sie eine akute Stimmbandentzündung. Ist es also doch noch nicht vorbei? Bist du immer noch ganz die Alte? In Geiselhaft deiner jahrzehntelangen Disposition, auf Konflikte stets ausgleichend zu reagieren und dich darüber hinaus in jene Luft aufzulösen, die dein Gegenüber wegatmet? Schluss damit! Kapier es endlich! Für diesen Mist bleibt dir keine Zeit mehr!

‘Das Glied meines Mannes …’, durchfuhr es Ruth. Sie erschauerte, als lausche sie einer Lautsprecherdurchsage, welche die Generalmobilmachung verkündet. ‘Wie sie von ihm gesprochen hat. So, so voller Verachtung. Ich kenne sie! Oh mein Gott …
Sie war mit ihm im Bett.
Dieses miese Stück hat ihn verführt! Er mag sie nicht. Das hat er immer wieder gesagt. Es muss also etwas anderes dahinterstecken. Diese seltsamen Fragen, zu Ronnies beruflichen Aktivitäten et cetera pp … Aber ganz egal was Bob und Marcy meinen, gegen meinen Mann in der Hand zu haben – sie sollen aufpassen, sie sollen verdammt nochmal aufpassen!’
Sie wollte es nicht wahrhaben.
Dabei wusste sie es längst.
Wie unnatürlich frisch Ron manchmal roch in letzter Zeit, wenn er spät nachts nach Hause kam. Wenn er denn überhaupt nach Hause kam! Die lächerliche Vorstellung, wie er sich im Badezimmer eines beschissenen Howard Johnson das Fell schrubbte, in der vergeblichen Hoffnung, dass der Duft eines fremden Schoßes nur ja nicht den Weg in ihre feinen Nüstern fand. Plötzlich sah sie es gestochen klar vor sich. Alles …, wie er sie … Oh mein Gott! Sie dachte daran, sich an Ort und Stelle übergeben zu müssen.
Nur war ihr überhaupt nicht danach, sich zu übergeben! Was sich vor ihrer privaten Leinwand abspielte, offenbarte eine unverhofft bittersüße Note, welche ihr für den Bruchteil einer Sekunde Luft zum Durchatmen bescherte: Auch sie hatte nicht vergessen, wie eine gesunde Pussy duftete.
“Bei meinem Gynäkologen saß eines Tages eine dunkelhaarige Schönheit, die mich irgendwie an Elizabeth Short erinnerte.”, wechselte sie abrupt das Thema. “Nur dass sie viel besser aussah, als die Schwarze Dahlie. Wir unterhielten uns. Wir trafen uns Downtown. Ich betete sie geradezu an!” flötete sie und schenkte Marcy ihren sanftesten Rehblick. “Eine Zeit lang liebäugelte ich tatsächlich mit dem Gedanken, ob nicht hätte mehr daraus werden können … Stell‘ dir das doch nur einmal vor? Vollkommen verrückt! In Rom kam das alles nochmal hoch. Als ich mein Töchterchen mit dir flirten sah. Keine Sorge, ich weiß, Darling. Du stehst ausschließlich auf Männer, nur nicht auf deinen Eigenen …”
Ruth unterbrach sich und fuhr, flankiert von einer entschuldigenden Geste, die wie das blanke Gegenteil wirkte, fort: “Marcy-Baby … Ich meine, überleg doch mal, was unsere Männer alles durchmachen mussten! Ich meine, sollte auch nur ein Drittel davon stimmen, was sie erzählen … Jedenfalls sind sie nicht einfach so aus dem Nichts heraus geworden, wer sie heute sind. Nein, sie sind dazu gemacht worden! Ich weiß! Was auch immer sie sind, perfekt sind sie nicht! Aber sind wir das denn? Wir waren nicht im Krieg! Wir haben nicht gesehen, was sie gesehen haben! Vielleicht sollten wir uns ja lieber um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern? Oder was meinst du? Irgendwer muss doch schließlich alles zusammenhalten. Überdies wäre es ein gänzlich vergebliches Unterfangen, in unsere Männer hinein sehen zu wollen …”
‘In unsere Männer hineinsehen! In die unendlichen Weiten des Weltalls! Mitten hinein in das absolute NICHTS! Abgesehen von ein bisschen Sternenstaub, umwoben vom Duft einer Armada williger Pussies ohne Hirn’, dachte Marcy, innerlich stoisch ihr Programm durchziehend. Was sollte diese Anspielung soeben? Über Thee in Rom?
“Du hast ja Recht …”, versetzte sie, sich so flexibel, wahlweise sanftmütig gebend, wie nur irgend möglich. “Wie bereits, so an die hundert Mal gesagt: Kein Mensch ist wie der Andere. Natürlich ist Ron nicht wie Bob, du bist nicht wie ich …”

‘Außerdem, was weiß ich denn schon!’, brachte Marcy ihren Gedanken im Stillen zu Ende. ‘Ich hab ja nicht einmal den Mut, mich in das Leben durchzuschlagen, welches ich leben will! Alles zusammenhalten? Prima, das denke ich vom Tag meiner Heirat an tagtäglich an die tausend Mal. Was sich niemals ändern wird, solange ich mit diesem Versager verheiratet bin!’ Diese Anspielung … Was sollte das?
“Wie auch immer”, sagte sie im Tonfall eines Schlusswortes, welches kein Mensch, der sie kannte, je für bare Münze nehmen würde. “Könnten wir vielleicht für zwei Minuten von etwas anderem reden, als von diesen Mistkerlen? Ich meine, haben wir nichts anderes im Kopf, was uns beschäftigen sollte? Hysterische Tiraden und gegenseitige Vorwürfe führen doch zu nichts!”, dozierte sie und kam sich vor wie eine Figur aus einem Roman von Susan Sontag.

Du hast Susan Sontag gelesen?
Warum fragst du so dämlich? Thee’s Nachttisch quillt über von dem Zeugs. Morgens erzählt sie mir regelmäßig, was diese Frau sich alles so zusammenreimt. Ich muss das nicht auch noch lesen müssen!

”Nein, nein, nein! Jetzt lass du mich mal ausreden, Liebes!, ruderte Marcy mit den Armen, obwohl ihr Gegenüber keinerlei Anstalten machte, sie zu unterbrechen. “Es tut mir leid! Gott im Himmel, wie oft kann man das eigentlich hintereinander aufsagen? Es tut mir leid, so leid, so unendlich leid – Bla, bla, bla … Oh mein Gott!”
“Wenn man es ernst meint, braucht man es, glaube ich, nur ein einziges Mal zu sagen”, entgegnete Ruth.
“Ach, Honey …,”, versuchte Marcy die Stimme zu dämpfen – wie immer bei ihr, ein eher suboptimaler Ansatz. “Es hat doch alles nichts mit euch, ich meine, mit dir hat das doch absolut nichts zu tun! Ich liebe dich doch, du naive, schöne Mrs. Brown! Bei euch ist ja irgendwie alles braun … Hat sicherlich dereinst mit deinem wunderschönen, kecken Haarschopf angefangen, nicht wahr? Aber es ist nun mal so, meine liebste Ruthie, wenn ich mich nicht endlich scheiden lasse, kriege ich Krebs!”
“Wow!” Ruth atmete schwer. “Weißt du was, Marcy? Du hast Eheprobleme. Ich sage nicht, du solltest dich scheiden lassen; ich glaube, das ist die schwerwiegendste Entscheidung, die eine Frau in ihrem Leben treffen muss und mir graut es, überhaupt nur darüber nachzudenken; das muss schlimmer als jede Abtreibung sein, aber …”
“Schlimmer als Abtreibung? Also sag mal!”
“Still, schweig endlich still! Den ganzen Abend über unterbrecht ihr mich wo immer es euch passt und es macht mich rasend! Tu mir den Gefallen, trink deinen Wein, halt die Luft an und spitz deine zarten Upperclass-Öhrchen: Erzähl mir nie wieder etwas von wegen, du bekämst Krebs! Ansonsten hätte ich da nämlich was für dich! Wie wär’s zum Beispiel mit dem, an dem ich gerade verrecke? Das wäre dann Gebärmutterhalskrebs!”
Ruth war aufgesprungen und fieberte durch die Küche. “Endstadium! Da ich nicht Bob geehelicht habe, sondern Ron, will ich meinen Mann sehr wohl noch hin und wieder glücklich machen! Und kann es nicht! Nicht mehr! Seit beinahe einem halben Jahr geht das schon so! Manchmal komme ich mir vor, wie in einem dieser Filme mit Bob Mitchum … Ronnie kommt extrem spät von der Arbeit nach Hause, dabei hat er offiziell Urlaub! Zumindest sagen die das, als ich mich traue, nach beinahe 20 Jahren mal irgendwo anzurufen! Weil es einen Auffahrunfall gab, auf dem City-Highway und ich mich aus lauter Sorge nicht zu beherrschen weiß! Wenn ich ihn dann umarme, riecht er nach Seife, süßlichem Parfüm und sonst was, nur nicht nach meinem Ehemann! Klar, ein Mann orientiert sich eben anderweitig, wenn er zu Hause eine Frau sitzen hat, die ihm da unten nur noch den sauren Geruch von Fäulnis offerieren kann!”
Marcy erzitterte. Mechanisch, ohne ein O.K. der Gastgeberin einzuholen, holte sie die Flasche aus dem Kühlschrank. Nach zwei Gläsern sah der restliche Pegel nicht aus, also blieb sie bei ihrem Egotrip, schenkte allein sich selbst ein und übergoss ihr Glas. Der den kristallenen Glasschaft hinunter rinnende Traubensaft sammelte sich wie Blut an ihren Händen. Was. Sollte. Diese. Gottverdammte. Anspielung. Auf. Thee. Und. Mich?!
Kurz vor dem Kollaps stehend, erteilte sie ihrer Mimik den Befehl, in eine Art Stand-by Modus zu verfallen. Die Visagen diverser Gene-Hackman-Typen spukten ihr durch den Kopf … in ihren FORD-Vans, vollgestopft mit Überwachungstechnik; Kerle, die im Zweifelsfall nicht davor zurückschreckten, sich in einen Plastikbecher zu erleichtern, solange sie nur die bösen Buben dingfest machen konnten!
Vergleichbar mit der präzise justierbaren Leistungskurve eines Gaskraftwerks, arbeitete Marcy’s Hirn unter Vollauslastung so zuverlässig, wie in jedem anderen Aggregatzustand. Du weißt, was jetzt kommt. Die Schotten dicht, ein Sixpack wächserner Masken übereinander getürmt und den Ersatzmotor angeworfen, selbst wenn die Haupt-Turbine surrt wie am Schnürchen. ‘Komm runter, du Pute! Krieg dich ein und streng deine grauen Zellen an! Ruthie – Ein Faible für Frauen? Unfassbar! Die Italienreise, diese seltsame Anspielung soeben …
Oh-my-God!
Unterschätze ich meine beste Freundin? Tatsächlich? Immerhin überschätzte ich jahrzehntelang meinen Ehemann. Am Ende bin ich nur in meiner Phantasie so verdammt clever, wie ich es mir immer einbilde. Nichts als eine x-beliebige, hysterische Hirschkuh in platinblond! Ein gottverdammtes Nichts! Ruth – Krebs? Oh mein … Andererseits, bei weitem nicht das Schlimmste, was passieren kann. Thee … Ronnie Mag … Weiß sie es? Ahnt sie es? Oder sind das alles nur Vermutungen? Hatte sie am Ende gar ihr Parfüm an ihm gerochen und zählte nun eins und eins zusammen? Unmöglich, sie wäre anders. Aber das ist sie! Sie i s t anders! Nein, sie spielt nur verrückt. Wenn sie es wüsste, wäre sie g a n z anders! Oder etwa nicht?
Am liebsten hätte Marcy den Teufel mit seinem eigenen Schwanz erdrosselt. Rück endlich raus mit der Sprache, du Dreckskerl! Zwecklos. Klar, der Arsch wollte auch seinen Spaß haben. Oh, dieser schier endlose Fluss an Fragen. Pausenlos, eine nach der anderen, ohne Punkt und Komma. Spaßbremsende, jegliche Spontanität verhindernde, vollkommen überflüssige Fragen! Vorwiegend festkochend. Vorwiegend angst-basiert. Dazu eine Prise spannender, neuer, und ja, manchmal auch tatsächlich berechtigter Fragestellungen, deren Beantwortung eine Dame von Welt scheute, wie einen Mann der sich nicht wusch!
Gierig nach Alkohol in der Blutbahn führte sie ihr Glas an die Lippen – und verschüttete erneut die Hälfte. Bist du eigentlich vollkommen bescheuert?
Kalt schmeckte der Wein, einfach nur kalt und hart. Sonst war da nichts mehr. Egal. Heute Abend würde es sein Ende finden.
Red-letter Day!
Zunächst jedoch würde sie antworten müssen. Kondolieren, irgendetwas Salbungsvolles entgegnen. Das gehörte sich nun einmal so!
Nicht gerade ihre Stärke. Ihr tat ja nichts weh. Anteilnahme stellte in ihren Augen etwas seltsam Abstraktes dar! Es hatte mit Schwäche, mit, sich eine Blöße geben, zu tun. Mit Dingen, die eine Dame unter allen Umständen zu vermeiden hatte! Ob in diversen Kriegen Angehörige der Zivilbevölkerung niedergemetzelt wurden, bei Flugzeugabstürzen verbrannten oder anderweitig zu Tode kamen, hatte sie nie sonderlich tangiert. Wenn sie überhaupt etwas fühlte, dann Erleichterung. Weil all das nichts mit ihr zu tun hatte. Glücklicherweise waren diese schrecklichen Dinge zumeist in weit entfernten Ländern geschehen, von denen sie oft noch nicht einmal gewusst hatte, dass diese überhaupt existierten!
Worüber Thee sich unheimlich aufregen konnte …
Gut, Vietnam war ihr mittlerweile natürlich schon ein Begriff. Unfassbar, wie die Öffentlichkeit mit den Jungs umging, die diesen Wahnsinn überlebt hatten. Als sei es ein Verbrechen, äußerlich ungeschoren davongekommen zu sein! Aber was hätte sie da schon tun können? Zusammen mit Thee und ihren langhaarigen Freunden vor dem Kapitol aufmarschieren? Lächerlich. Wenn, dann hätte sie gegen diese Kids demonstrieren wollen, nicht mit ihnen! Ruthie? Natürlich tat die ihr leid. Sie war ja schließlich kein Unmensch! Sie dachte an die endlos thematisierten chronischen Entzündlichkeiten ihrer Tochter, für die kein einziger noch so teure Mediziner je auch nur den Hauch einer Erklärung fand. Nicht zu vergessen die mannigfaltigen Dauer-Wehwehchen von Bob-The Flop!!!

‘Eigentlich müssten mindestens zwei Drittel aller Frauen lesbisch sein!’, dachte Marcy. Männer waren entweder Krieger oder Waschlappen. Verhältnis 1:3. Die Krieger kämpften im Dschungel, die Waschlappen hatte man grunzend auf sich liegen. Mädel, krieg dich ein und mach deine Hausaufgaben! Rührung, Mitgefühl, Pietät – irgendein Schmu, vorgetragen mit erstickter Stimme, ganz wunderbar …
Ein Kloß im Hals wäre jetzt ein Geschenk des Himmels!
Aber das konnte sie vergessen – Der Herr war offenbar der Ansicht, dass sie seine Hilfe nicht verdient habe.
Marcy schluckte trocken. Ausgerechnet der Gedanke an ‘die neue Ruth’ löste den Knoten. Sie wurde sich bewusst, dass sie sich mit Ruth zwar reflexartig solidarisch zeigte, wenn es gegen die Männer ging – aber im Grunde ihres Herzens, wie man so schön sagte, fühlte sie nur Verachtung für sie. Wie schwach man innerlich auch sein mochte, das ging niemanden etwas an! Eine gestandene Frau hatte es nicht nötig, sich wie ein devotes Kitz aufzuführen! Unser Ruthie-Kitzlein: Legendär grauenvoll, wenn auch sowas von zum Knuddeln! Millionen kleiner, brauner Plüsch-Figürchen für’s Mittelspiegel-Gebaumel von Millionen und Abermillionen amerikanischer Durchschnitts-Karossen – The lil’ Sweet Ruthie – der Verkaufsschlager für Billionen amerikanischer Durchschnitts-Ehemänner und Dauer-am-Sack-Kratzer!

Bob wäre gerade echt stolz auf dich! Man spürt geradezu, dass er in jeder einzelnen deiner Zellen steckt – schon allein aufgrund deiner Wortwahl!

Touché.
So oder so: Die Ruth von heute schien immerhin endlich aufzuwachen. Wie sehr sie auch da unten vor sich hin gammeln mochte, so war sie doch wenigstens endlich einmal greifbar!

‘Es ist, wie es ist’, dachte Marcy säuerlich. Die für sie typischen, gekräuselten Mundwinkel verrichteten zuverlässig ihren Job und zauberten ihr jenes verschmitzte Lächeln auf die Lippen, auf das sie sich noch immer hatte verlassen können, wenn es galt, den Leuten etwas vorzumachen. Heutzutage konnte ein falscher Zungenschlag, wahlweise Blick, wenn auch nicht das Ende, aber sehr wohl den öffentlichen Pranger bedeuten. Den Verlust von Ruf und Würde … Sie musste an all die Hypokriten in ihrem Bekanntenkreis denken Die Weiber waren fast noch schlimmer als die Kerle! Nicht zu reden von den lokalen Presse-Pavianen in ihren billigen Anzügen und noch billigeren Schuhen, oder den Investigativ-Schakalen mit ihren superteuren Handkameras, die es darauf anlegten, einen mit ihren fancy-italienischen Mopeds über den Haufen zu fahren.
Ihr würde so etwas nicht passieren …, trumpfte sie innerlich auf und genoss den seltenen Moment, sich hinter ihrer Stirn absolut sicher zu fühlen. Eingehüllt in einen dicken Nerz, im Winter von Manhattan. Was zwangsläufig zum nächsten Bild führte. Führen musste: Ein festlich geschmückter Broadway an Weihnachten, all die Lichter, all der Glanz! Was wiederum zur Folge hatte, dass ihr ein schrilles …
“Wundervoll!”
… herausplatzte.
Wobei ihr siedend heiß aufging, dass diese Äußerung im Kontext von Ruthie’s soeben getätigter Offenbarung einer tödlichen Krebserkrankung schlichtweg eine Katastrophe darstellte!
“Manchmal …!”, hob sie erneut an … und starb ebenso schnell wieder ab, sich an dem Bemühen verschluckend, mit halbwegs leiser, salbungsvoller, bedeutungsschwangerer et cetera pp Stimme zu sprechen. Das große Mantra, siehe auch: die Tages-, Jahres-, und Lebensaufgabe – endlich ihr Sprachorgan zu kontrollieren, wenn es einmal wirklich, und absolut unabdingbar darauf ankam!
Auch das würde sie eines Tages noch in den Griff bekommen!
Nur nicht heute.
“Oh my God, Darling!!!”, schrie sie dermaßen entfesselt, dass noch die letzte Resopalplatte das Laufen lernen wollte. Mach einfach! Rede! GO ON! Einfach weiter und weiter und immer weiter. Solange du nur redest, hast du Zeit, dir was zu überlegen.
“Du hättest ruhig mal eher was sagen können, Süße”, knarzte sie nun, im dritten Anlauf endlich halbwegs austariert. “Gott, es tut mir so, so leid! Komm mal her und lass dich umarmen!”
Sie ging auf Ruth zu, aber diese wich zurück, so dass Marcy nichts weiter übrigblieb, als sich an ihren eigenen Worten festzuhalten. ”Also, äh, ich bin immer für dich da! Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, dann lass es mich sofort … Ich meine, ich kenne da einen Chirurgen in Houston, Texas, der hat mir mal … also – der ist ein absoluter Spezialist!”
“Ach, Darling …”, hauchte Ruth, als kehre sie nach verlorener Schlacht zurück in ihr Heimatdorf. Sie wankte auf Marcy zu und beide schlangen die Arme umeinander. “Ist schon gut. Ich danke dir für deine Anteilnahme …, aber es ist zu spät. Der Krebs streut im ganzen Körper, gestern habe ich den Doc gefragt, wie lange noch, und er meinte, mit etwas Glück vielleicht 6 Wochen.”
Sie fing an zu schluchzen und sank in Marcy’s Schoß. “Was wird nur aus Ronnie, ohne mich? Wer sorgt für ihn, wenn ich nicht mehr da bin? Im Vergleich dazu, sind meine Probleme nun wirklich nicht der Rede wert!“

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